„Es ging mir nie ums Dünnsein. Es war ein Hilfeschrei“
Die Bloggerin Antonia C. Wesseling (21) war magersüchtig. Mit 14 stellte sie von heute auf morgen das Essen ein. Mehrere Therapien schlugen fehl. Irgendwann erkannte sie, dass ihr Problem tiefer liegt. Heute will sie anderen helfen.

Mit vierzehn Jahren stellt Antonia Wesseling von heute auf morgen das Essen ein. Die Ärzte tun ihr Problem als vorübergehendes Pubertätsphänomen ab. Ihre Eltern aber erkennen, dass es mehr ist, und weisen sie in die Psychiatrie ein. Diagnose: Magersucht, Anorexia Nervosa. Nach ihrem Aufenthalt dort wird Antonia erst einmal rückfällig. Heute ist sie 21, eine erfolgreiche YouTuberin und eine, die sich irgendwann ihren Ängsten gestellt hat.
Am Anfang war es für Antonia C. Wesseling so etwas wie ein Kick, eine Challenge, um zu zeigen, wie stark sie ist. Anlässe gab es genug: Sie stritt sich mit Freundinnen, der Junge, den sie mochte, ignorierte sie – und so schlug sie einem anderen Mädchen vor: Lass uns doch 48 Stunden lang hungern.
Damals war sie 14, besuchte die neunte Klasse eines Düsseldorfer Gymnasiums. Ihre Kindheit beschreibt sie als glücklich und wohlbehütet. Freunde beneideten sie um ihre Bilderbuchfamilie, die glücklich verheirateten Eltern. Die Autorin: „Sie hatten recht, meine Geschichte begann also nicht vor dem Hintergrund einer schwierigen Familiensituation, wie ich mir das früher vielleicht vorgestellt hätte, wenn die Rede auf psychische Krankheiten kam.“
Hinter der Fassade des fröhlichen Mädchens, das allerdings sehr viel grübelte und kaum rausging, brodelte es. Sie litt unter Ängsten und Zweifeln. In ihrer Klasse redeten die Mädchen immer häufiger über Diäten. Das führte bei ihr dazu, dass sie auf einmal ihre Ernährung infrage stellte, obwohl sie sich nie dick gefühlt hatte. Sie wollte nichts mehr essen.
„Wenn meine Eltern mit mir schimpften, ließ ich Mahlzeiten ausfallen, wenn ich Angst vor einem wichtigen Ereignis hatte, schlief ich hungrig ein“, beschreibt sie es in ihrem Buch „Wie viel wiegt mein Leben?“.
Das Abnehmen wird benutzt, um tief liegende Probleme zu kompensieren.
Antonia C. Wesseling
Was ihr damals mit 14 nicht klar war: Die Magersucht sprach für ihre Wut, ihre Trauer, ihre Angst. „Diese Krankheit ist mehr als ein Problem. Diese Krankheit rächt missachtete Gefühle. Es geht bei Magersucht nicht nur darum, dass man abnehmen will. Das Abnehmen wird benutzt, um tief liegende Probleme zu kompensieren.“
Und die brodelten lange in ihr. Sie schämte sich für ihre Impulsivität und ihre extremen Gefühlsausbrüche, wollte zwanghaft die Kontrolle behalten und bewies sich jeden Tag aufs Neue, dass sie ihre menschlichen Bedürfnisse unterdrücken kann. Hinzu kam der Druck von außen, sei es ihr direktes Umfeld oder das, was ihr durch die Medien als Ideal vorgelebt wurde.
Damit ist sie nicht allein. Etwa zwanzig Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland zwischen elf und siebzehn Jahren zeigen Symptome einer Essstörung. Fast die Hälfte der Mädchen und ein Fünftel der Jungen im Alter von 15 Jahren empfindet sich als zu dick, obwohl sie normalgewichtig sind. Mehr als die Hälfte der Mädchen hat in diesem Alter bereits Diäterfahrungen gesammelt, jedes vierte Mädchen sogar mehrfach.

Antonia C. Wesseling: „Für mich war diese Angst prägend, während meiner Krankheit. Bei psychischen Krankheiten spielt Wertlosigkeit eine große Rolle. Ich habe immer gedacht, dass ich es gar nicht wert bin, Hilfe zu bekommen. Ich war mir selbst nicht wichtig genug. Ich habe immer geglaubt, dass ich weiter abnehmen muss, damit ich Hilfe ‚verdient‘ habe. Ich denke, dass dieses Gefühl vor allem bei der Magersucht so präsent ist, weil es eine konkrete Vorstellung in der Optik einer magersüchtigen Person gibt. Als Betroffene möchte man dem Bild gerecht werden. Ich dachte häufig: ‚Ich muss dünner sein, damit ich auch wirklich aussehe wie eine Magersüchtige.‘“
Antonia sucht sich damals Hilfe und vertraut sich ihren Eltern an. Die weisen sie in eine Klinik ein. „Es war ein langer Heilungsprozess“, sagt sie. Erst während ihres dritten Klinikaufenthalts erkennt sie, dass es so nicht weitergehen kann. „Ich wurde damals offiziell wegen Depressionen aufgenommen und auch mehr dahingehend behandelt. Wir haben viel über meine Gefühle gesprochen, meine Ängste und Sorgen. Viel mehr als über das Essen und mein Gewicht. Das hat das Problem mehr an der Wurzel gepackt.“
Daher schreibt sie in ihrem Buch auch nicht über Zahlen, Kalorien- oder Gewichtsangaben: „Weil ich glaube, dass sich andere Leute dann viel zu sehr darauf fixieren. Betroffene vergleichen sich untereinander sehr anhand ihres Gewichts. Wer wiegt weniger? Wer ist kränker? Die Leute wollen aus Sensationshunger häufig ein dramatisch niedriges Gewicht hören. Und wenn ich das nicht bieten kann? Bin ich dann nicht krank? Eben doch! Aber mich hat das damals so unter Druck gesetzt, dass ich mich tatsächlich so weit runtergehungert habe, um mich zu beweisen. Ich möchte mit meinem Buch anderen Betroffenen helfen und sie nicht anheizen, weiter abzunehmen.“
Ich will zeigen, dass psychische Erkrankungen weder ein Tabu sind noch peinlich oder schwach.
Antonia C. Wesseling
In ihrem Buch und auf ihren sozialen Kanälen Instagram und YouTube unter @tonipure spricht die 21-Jährige, die in Köln lebt, inzwischen über diese Zeit. „Das erste Mal, dass ich offiziell den Begriff Magersucht in Verbindung mit mir öffentlich gemacht habe, war im April 2019. Ich habe den Jahrestag meiner Klinikaufnahme gewählt und ein Rückblickvideo gezeigt. Ein Jahr, zwei Leben. Das war die Aussage des Videos. Vor den Reaktionen meiner Community hatte ich keine Angst, denn wenn ich ehrlich bin, wusste ich, dass psychische Krankheiten vor allem in meiner Generation anerkannter sind. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich jetzt alle dafür heruntermachen.“
Die Reaktionen waren durchweg positiv, was sie noch mehr bestärkte. Mittlerweile ist sie so etwas wie eine „Sinnfluencerin“ für das Thema Essstörung geworden. Sie sagt: „Die Magersucht war ein Teil meines Lebens, und dazu stehe ich und das will ich zeigen: dass psychische Erkrankungen weder ein Tabu sind noch peinlich oder schwach. Aber die Magersucht ist nicht mein Hauptthema, weil sie nicht mehr der größte Teil meines Lebens ist und sein soll.“
Eltern sollten einen Therapeuten hinzuziehen
Was rät sie anderen? „Schaut hinter das Symptom. Das Kind hungert sich zu Tode? Was könnten die Gründe sein? Ich würde Eltern raten, immer einen Therapeuten hinzuzuziehen. Und vor allem nicht sofort aufzugeben, wenn der erste Anlauf ein Reinfall ist. Therapeuten sind so unterschiedlich wie alle anderen Menschen. Vor allem sage ich aber auch immer: Ernst nehmen! Nicht warten, bis das Kind sich auf Gewicht xy runtergehungert hat.“