Mühlrose - das letzte Dorf, das von der Braunkohle weggefressen wird
Das Lausitzer Dorf lebt seit über 60 Jahren mit dem Tagebau. Als letzter Ort Deutschlands soll Mühlrose nun der Braunkohle weichen. Viele wollen in Ruhe Abschied nehmen - eine Minderheit will bleiben.

Der Wind wirbelt den Sand auf dem Baufeld in dem Lausitzer Ort Schleife (Landkreis Görlitz) auf. LEAG-Infrastrukturmanager Martin Klausch klappt die Pläne für das neue Mühlrose auseinander, das hier entstehen soll. Jenes Dorf im Klammergriff des Tagebaus Nochten ist Deutschlands letzter Ort, der der Braunkohle weichen muss. Während das Energieunternehmen auf der einen Seite die Erschließung des neuen Standorts abschließt, beginnt es im alten Ort mit dem Abriss der ersten Häuser. „Unser Ziel ist es, das alte Mühlrose so lange wie möglich zu erhalten und zugleich dem neuen Mühlrose einen neuen Anker zu geben“, sagt Klausch.

Mühlroses Bürgermeister Waldemar Locke schaut Klausch über die Schulter. Es gibt eine Mehrheitsentscheidung seiner Mühlroser für den gemeinsamen Umzug ins Nachbardorf Schleife. Es gibt einen Umsiedlungsvertrag, der im März 2019 unterschrieben wurde. Dieser Vertrag regelt die private Entschädigung für die Umsiedler und die Entschädigung des kommunalen Eigentums. Für die meisten Einwohner bedeutet die Vertragsunterzeichnung vor allem ein Schlussstrich unter einem jahrzehntelangem Hin und Her, Gehen und Bleiben.
Ein Bagger rollt über das Bauland, wo 41 Bauplätze für die Mühlroser zur Verfügung stehen. Auf den Bauplänen sind Dorfgemeinschaftshaus, Kriegerdenkmal, Glockenturm, Schwimmbad und Sportplatz eingezeichnet. Fast alles, was es im alten Dorf gibt, wird sich auch im neuen Mühlrose finden. Dafür hat der Beirat Umsiedlung gesorgt. Das zehnköpfige Team kümmert sich darum, das„ neue Mühlrose so schön wie möglich zu gestalten, damit der Heimatverlust nicht so sehr schmerzt“, sagt der Vorsitzende Sten Kowalick. Der 40-Jährige arbeitet in einer Forschungsanlage in Schwarze Pumpe, wo hochreines Silizium für die Solarindustrie hergestellt wird. Mit seiner Familie lebt er auf einem über 100 Jahre alten Dreigenerationenhof. Ihr privater Notarvertrag mit der LEAG über die Übergabe ist in Vorbereitung.

Die Anzeige für den Neubau liegt beim Bauamt. Anfang 2021 will Kowalick beginnen. „Wir müssen nach vorn schauen, ohne jegliche Einmischung von außen“, sagt er. Denn seit der Ankündigung über den Abriss der Gebäude Ende August ist Mühlrose Thema bei Politik und Umweltverbänden. Auch einige Mühlroser fordern den Abriss-Stopp der leergezogenen Häuser und die Verkleinerung des Tagebaus Nochten zugunsten des Erhalts des knapp 500 Jahre alten Dorfes.
Die Grüne Liga Cottbus vermutet, dass Bleibewillige durch die Abrisse psychisch unter Druck gesetzt werden sollen. Die Lausitzer Abgeordnete der Linken, Antonia Mertsching bietet der LEAG an, ein leeres Haus zu kaufen. Sachsens Klimaschutzminister Wolfram Günther (Bündnis 90/Die Grünen) sagt nach einem Ortsbesuch: „Mühlrose wird aufgerieben zwischen den unterschiedlichen Wünschen der Bewohner, dem verhandelten Kohleausstieg und den Interessen, die von außen auf den Ort einwirken.“ Sein Landesparteirat fordert Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) auf, „die LEAG in ihre Schranken zu weisen“ weil es für den Abbau der Kohle keine rechtliche Grundlage gebe und ein neuer Revierplan noch ausstehe.

Kowalick, sein Stellvertreter Enrico Kliemann und viele andere aus dem Dorf ärgern diese Außensichten. An ihren Häusern hängen Schilder mit der Aufschrift: „Pro Mü!.... und zwar am neuen Standort in Schleife. Bitte keine Kaufangebote! Unser Haus geht, weil wir gehen und steht somit einer Nachnutzung leider nicht zur Verfügung!!!“ Fünf Haushalte, schätzt der Mühlroser, wollen gern bleiben, knapp 200 Menschen wohnen im Dorf. „Wir sind umzingelt vom Tagebau, es wurde jahrelang nichts an der Infrastruktur gemacht: Wir haben Klärgruben mit Sondergenehmigungen, Trinkwasser aus der Stichleitung, es gibt weder einen Breitbandanschluss noch eine vernünftige Straßenanbindung, Risse an den Häusern sowieso“, sagt Kliemann.
Mit dem Wissen vom „Schwarzen Gold“ unter ihrer Scholle leben die Mühlroser seit Mitte der 50er Jahre. Mitte der 60er Jahre beginnt die Baufeldfreimachung und die erste Umsiedlung. Die politische Wende stoppt den Hunger des Braunkohlebaggers. Ein Aufatmen geht durchs Dorf – bis zu Beginn der 2000er Jahre. Da besinnt sich der damalige Konzern auf die Vorkommen. Die Verträge mit Vattenfall zur Umsiedlung sind schon unterschriftsfertig, als der schwedische Energiekonzern den Rückzug aus der Braunkohlesparte verkündet. Einige freuen sich, andere verlassen den Ort.

Einen wirklichen Schlussstrich können viele erst im vergangenen Frühjahr ziehen. Die LEAG erklärt, dass die Kohlereserven im Teilfeld Mühlrose auch bei einem Kohleausstieg für das Kraftwerk Boxberg benötigt werden. Mit der Unterschrift unter dem Umsiedlungsvertrag kommt für viele Mühlroser die Hoffnung auf einen Neuanfang zurück - bis zu erneutem Bangen. Im Juli 2020 beschließt der Bundestag das Kohleausstiegsgesetz. Spätestens 2038 soll in Deutschland das letzte Kohlekraftwerk vom Netz.
Was bedeutet das für Mühlrose? Thema wird das kleine sorbische Dorf auch bei den Koalitionsverhandlungen im Freistaat Sachsen. Der Vertrag sichert Pödelwitz im Revier bei Leipzig explizit den Erhalt zu. Für das Lausitzer Revier heißt es, es dürften „keine Flächen in Anspruch genommen werden (...), die für den Betrieb der Kraftwerke im Rahmen des Kohlekompromisses nicht benötigt werden“.
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Auf diesen Passus beziehen sich die Mühlrose-Unterstützer. Sie führen zudem an, dass es weder einen überarbeiteten Revierplan der LEAG gibt, der die neuen Vorzeichen des Kohleausstiegs beachtet, noch eine genehmigte bergrechtliche Inanspruchnahme des Dorfes. Ein weiteres Argument liefert in ihren Augen das Gutachten der Wirtschaftsprüfer Ernst & Young im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums. Nach dessen Berechnungen zieht der Kohleausstieg einen geringeren Bedarf an zu fördernder Kohle in den LEAG-Tagebauen nach sich. Das Minus entspricht in etwa jener Menge Kohle, die noch unter Mühlrose liegt.

Die LEAG kontert: „Das neue Revierkonzept liegt bis Ende des Jahres vor und wird zeigen, dass wir die Kohle unter Mühlrose – etwa 145 Millionen Tonnen - für den Betrieb des Kraftwerks Boxberg brauchen. Wir schauen nicht rein rechnerisch auf die Kohle, müssen Logistik, Transportwege und Qualitäten in unsere Planungen einbeziehen“, sagt Pressesprecher Thoralf Schirmer. Anders als das Teilfeld Mühlrose ist bergbautechnisch das Teilfeld Nochten genehmigt. Dieser Tagebau wird voraussichtlich die Verbindungsstraße Mühlroses zum Rest der Welt 2025 verschlingen.
Die Umsiedlung soll am 31. Dezember 2024 abgeschlossen sein. „Wir sind mit allen Mühlrosern im Gespräch. Wir halten uns an die Verträge“, sagt Klausch und bleibt mit dem Bürgermeister am Schild mit der Aufschrift Mühlrose stehen. „Wir siedeln für das Allgemeinwohl um. Ich wünsche mir Respekt für die Mühlroser“, sagt Locke. Für ihn ist es wichtig, dass ein großer Teil der Dorfgemeinschaft gemeinsam nach Schleife geht. Gleich hinter dem weißen Interims-Ortsschild werden in den kommenden Tagen die ersten Umsiedler die Bodenplatten für ihre Neubauten gießen. Für sie rückt dann der Abschied von ihrer alten Heimat immer näher.