Krematorien sind voll

Der Tod steht Schlange in Sachsen

Sachsen ist von Corona hart getroffen, die Zahl der an Covid-19 Gestorbenen ist hoch. Bestatter und Mitarbeiter in Krematorien arbeiten am Limit und leiden mit.

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Ein Sarg fährt in einem Krematorium in Dresden in den Einäscherungsofen.
Ein Sarg fährt in einem Krematorium in Dresden in den Einäscherungsofen.dpa/Sebastian Kahnert

Der Tod steht Schlange auf dem Döbelner Geyersberg. Drei Sargtransporter haben auf dem Hof des Krematoriums hoch über der nordsächsischen Stadt eingeparkt, ein vierter steht mit offener Heckklappe vor der Trauerhalle. Zwei Männer heben die beiden darin liegenden Särge heraus, wuchten sie auf Rollwagen und schieben sie in das Gebäude.

Dort, wo sonst Trauerfeiern mit bis zu 90 Gästen stattfinden, Angehörige und Freunde still Abschied nehmen von ihnen nahestehenden Menschen, sind die Stühle in eine Ecke geräumt. Dafür stapeln sich an einer der beiden Wände 30 Särge, immer zwei stehen übereinander. „Heute Nachmittag“, sagt Gerold Münster, der Geschäftsführer des Krematoriums, „wird die andere Wand auch vollgestellt sein.“

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Sachsen ist von der Corona-Pandemie besonders heftig betroffen. Gemessen an der Bevölkerungsgröße ist die Zahl der bestätigten Neuinfektionen bundesweit am höchsten. Und auch die Zahl der an Covid-19 Gestorbenen. Fast 9700 Menschen seien im Dezember in dem Bundesland gestorben, teilte das Statistische Landesamt am Donnerstag mit. Das seien so viele wie noch nie in einem Monat in den vergangenen 40 Jahren und fast doppelt so viele wie im Dezember 2019. Dass in Sachsen derzeit so viel mehr Menschen sterben als sonst üblich, bringt die rund 200 Bestattungsunternehmen und vor allem die zehn Krematorien des Freistaats an ihre Kapazitätsgrenzen. Nicht nur auf dem Döbelner Geyersberg türmen sich buchstäblich die Särge.

Die Mitarbeiter des Krematoriums arbeiten am Limit

Wäre es nicht so makaber, könnte man sagen, das Geschäft mit dem Tod floriert in diesem Corona-Winter. Doch in dem dunklen, fensterlosen Besprechungsraum des Krematoriums in Döbeln gewinnt man schnell den Eindruck, dass Geschäftsführer Münster in diesen Wochen nicht das Betriebsergebnis oder ökonomische Kennziffern umtreiben. „Natürlich gehen meine acht Mitarbeiter und ich hier tagtäglich mit dem Tod um, das ist eigentlich nichts Besonderes für uns“, sagt Gerold Münster, 47 Jahre alt. „Doch was wir seit November erleben, ist eine wirklich neue Erfahrung für alle von uns. Und das hinterlässt Spuren.“

Münster stammt aus Sachsen, in der Nähe von Leipzig ist er aufgewachsen. Heute ist er Regionalleiter in der Unternehmensgruppe Jakob Becker aus Rheinland-Pfalz, einem angesehenen Entsorgungsunternehmen mit 58 Standorten in der gesamten Bundesrepublik. Der Firmengruppe gehört auch das Krematorium in Döbeln, das als Einziges in Sachsen privat und nicht, wie sonst üblich, von einer Kommune betrieben wird.

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Münster macht an diesem Morgen einen erschöpften Eindruck. Gerade eben noch hat er auf dem Hof des Krematoriums einen Bestatter beruhigen müssen. „Er hatte sich aufgeregt, dass wir seinen Kollegen aus weiter entfernt liegenden Orten Verstorbene abnehmen, er aus Döbeln aber Schwierigkeiten habe, einen Termin bei uns zu bekommen“, erzählt Münster. Er verstehe den Ärger des Mannes, der habe nur einen kleinen Betrieb ohne eigene Kühlräume. „Der kann die Leichen nicht lange bei sich aufbewahren. Aber was soll ich tun? Mir geht auch der Platz aus.“

Seit Ende November sei die Zahl der Toten, die in sein Krematorium gebracht werden, förmlich explodiert. „Allein im Dezember lieferten uns die Bestatter über die Hälfte mehr Verstorbene an als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Und auf diesem hohen Niveau stehen wir nach wie vor.“ Münster schweigt kurz, schüttelt leicht den Kopf. „Unser Betrieb, unsere Mitarbeiter arbeiten am Limit. Nicht nur physisch, auch psychisch. Wenn man den ganzen Tag schuftet und die Menge an Särgen nicht abnimmt, man einfach nicht mehr hinterherkommt – das geht den Leuten an die Substanz. So eine Situation belastet jeden von uns, auch dann noch, wenn man längst zu Hause ist.“

Die Kühlräume sind voller denn je

Eine Ahnung davon, was Münster meint, erhält man bei einem Rundgang durch das Gebäude. Das Döbelner Krematorium ist eines der ältesten in Deutschland. 1938 wurde es gebaut, aus dunklen Mauersteinen und mit verwinkelten Gängen, in die nur wenig Tageslicht dringt. Der – nennen wir ihn so – technische Bereich der Einrichtung befindet sich auf der von der Straße abgewandten Seite. Das sächsische Bestattungsgesetz schreibt vor, dass eine zweite Leichenschau in den Krematorien durch einen Arzt erfolgen muss, die ein Mitarbeiter des Gesundheitsamtes beurkundet. Von der Einlieferung bis zur Einäscherung dürfen dabei maximal acht Tage vergehen. „Das schaffen wir derzeit nicht, unser Rückstand beträgt neun bis zehn Tage“, sagt Münster.

Der Geschäftsführer öffnet eine schwere Stahltür, durch die man in die Kühlräume gelangt, wo die Toten bis zur Einäscherung aufbewahrt werden. In mehreren Reihen stehen hier einfache Holzsärge auf Rollwagen, nur ein schmaler Gang führt dazwischen hindurch. „In normalen Zeiten ist dieser Raum nur halb so gefüllt wie jetzt“, sagt Münster. „Keiner unserer Mitarbeiter kann sich daran erinnern, dass die Kühlräume jemals so voll standen.“ Es sei ein Glück, dass die Außentemperaturen gerade so niedrig sind, dadurch könne man auch die ungeheizte Trauerhalle als Zwischenlager für die Särge nutzen.

Auf jedem Sarg klebt ein weißer Zettel mit Namen und Geburtsdatum des Toten. Bei vielen ist darüber noch ein weiterer Zettel angebracht. „Infektiöse Leiche“ steht darauf in roter Schrift oder auch „Covid-19“ und „Corona positiv“. „Wir führen keine Statistik, aber nehmen schon wahr, dass eine Vielzahl der bei uns eingelieferten Sterbefälle mit dem Hinweis auf eine Corona-Erkrankung versehen ist“, sagt Münster.

Bestatter gelten nicht als systemrelevant

An den Kühlraum schließt sich ein langer Gang mit Vorraum an, der zu den zwei modernen Flachbettöfen der Anlage führt. Auch hier steht Sarg an Sarg, alle sind mit einem schwungvoll aufgetragenen Buchstaben B versehen. Das B steht für Besichtigung, das heißt, die zweite Leichenschau wurde durchgeführt. „Das ist heute unser Tagespensum“, sagt Münster und deutet auf die lange Schlange der Särge. „90 Minuten dauert eine Kremierung. Wir arbeiten an den Öfen sechs Tage lang in zwei Schichten, an zwei Tagen kommt eine dritte hinzu.“ Auf diese Weise schaffe man zwischen 20 und 30 Einäscherungen pro Tag. Mehr geht nicht, sagt der Geschäftsführer, denn die Öfen brauchen auch eine Ruhe- und Auskühlzeit, sonst gehen sie kaputt. Auch sei die Arbeit für seine Leute körperlich anstrengender geworden. „Durch das ständige Umräumen der Särge ist die Tätigkeit viel schwerer als sonst. Die Mitarbeiter fassen heute jeden Sarg drei- bis viermal an, das ist doppelt so oft wie üblich.“

Dann zeigt Münster durch ein Fenster auf einen kleinen Hof. Dort steht der Kühlanhänger eines Sattelschleppers. „Den haben wir im Dezember geordert, als unsere Kühlräume nicht mehr ausreichten“, sagt er. „Er ist bis obenhin voll mit Särgen.“

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80 Kilometer südlich von Döbeln, im erzgebirgischen Marienberg, haben sich an diesem sonnigen Wintertag zwei Dutzend Menschen auf dem Friedhof der evangelischen Kirchgemeinde St. Marien versammelt. In kleinen Gruppen stehen sie weit verteilt zwischen den Gräbern, um die Corona-Bestimmungen einzuhalten und dennoch Abschied nehmen zu können von einem Toten, dessen Urne gerade in der Erde verschwindet. Aus dem Schnee, der die Gräber bedeckt, ragen Grabsteine und Kreuze.

„Es ist eine schwere Zeit für Trauernde“, sagt Tobias Wenzel, 53. Wir sitzen jenseits der Friedhofsmauer in einem warmen Zimmer an einem Tisch, eine Plexiglasscheibe zwischen uns schützt vor möglicher Ansteckung. Auf dem Tisch liegen zwei Kugelschreiber, Notizpapier und ein Pappkarton, aus dem man Papiertücher ziehen kann, um Tränen zu trocknen. „Seit 1988 arbeite ich als Bestatter, seit 1990 bin ich selbstständig“, erzählt Wenzel. Sein Unternehmen hat acht Mitarbeiter und mehrere Standorte in der Region. Seit mehreren Jahren vertritt er zudem als Obermeister der Landesinnung Sachsen die Interessen seiner Berufskollegen im Freistaat. „Gestorben wird immer“, sagt Wenzel. „Aber jetzt wird mehr gestorben als sonst. Hätte man mir im letzten Frühjahr gesagt, wie hoch am Ende des Jahres die Sterbezahlen sein werden, ich hätte das nicht geglaubt.“

Seine Mitarbeiter und er seien mit 30 bis 40 Prozent mehr Sterbefällen befasst als sonst üblich in den dunklen Monaten zwischen November und Februar. Und trotzdem werde die Bestatterbranche nicht als systemrelevant eingestuft, berichtet er. Das findet er ärgerlich. Mit Ach und Krach wurde in Sachsen erreicht, dass Mitarbeiter ihre Kinder in die Notbetreuung von Kitas und Schulen schicken dürfen. Aber wenn es um die Impfungen geht, stehen Angestellte in Krematorien und Bestattungshäusern wieder nicht auf der Liste. „Dabei haben wir wie das Krankenhauspersonal Kontakt mit Corona-Infizierten, das Virus stirbt doch nicht, wenn der Mensch stirbt“, sagt Wenzel. „Ist keinem klar, dass das ganze System zusammenbricht, wenn die Pandemie in unserer Branche zuschlägt?“

Besondere Vorsicht im Umgang mit den Toten

Die meisten Menschen, die er und seine Kollegen mit dem Bestatterwagen abholen, sind in den Pflegeheimen der Region gestorben. „Ich war vor kurzem in einem Heim, wo wir einen alten Mann abholten, der an Corona erkrankt und dann gestorben war“, erzählt Wenzel. „Es war an einem Vormittag. Er lag in einem Doppelzimmer, zusammen mit einem anderen, der sich ebenfalls infiziert hatte. Da müsst ihr wahrscheinlich heute Nachmittag gleich noch mal kommen, hatte die Pflegerin leise zu uns gesagt und auf den anderen Mann gedeutet. Sie behielt recht.“

Es belaste ihn sehr, dass die meisten Covid-Toten alte Menschen sind, Generation 80 plus. „Das sind doch die, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut haben, die den Wohlstand mit geschaffen haben, in dem wir heute leben. Warum geben wir viele Millionen Euro für eine Corona-Warn-App aus, die nicht funktioniert, statt das Geld dafür zu verwenden, diese Menschen zu schützen?“, fragt er. „Und dann werde ich wütend, wenn auf der Straße gesagt wird, das seien ja bloß die Alten, die sterben, die hätten eh nicht mehr lange zu leben gehabt.“

Durch die Pandemie hat sich auch die Arbeit der Bestatter erheblich verändert. Nicht nur, dass sie mehr Sterbefälle zu betreuen haben. Die Zahl sogenannter infektiöser Leichen ist seit dem November auch deutlich höher als sonst üblich, was dazu führt, dass man im Umgang mit den Toten besondere Vorsicht walten lassen muss. „Das ist jetzt nicht völlig neu für uns“, sagt Wenzel. „Wir haben immer mal wieder zu tun mit Menschen, die an oder mit ansteckenden Krankheiten verstorben sind, Tuberkulose etwa, Influenza oder auch Krankenhauskeime. Was sich verändert hat, ist die Häufigkeit. Bei vielen steht nun Covid-19 auf dem Totenschein.“

Das Robert-Koch-Institut schreibt den Bestattern strenge Regeln für den Umgang mit Corona-Toten vor. Sie dürfen nicht gewaschen oder angekleidet werden, bei jedem Kontakt mit dem Körper muss der Bestatter vollständige Schutzkleidung tragen. Die Leichen müssen in sogenannte Body Bags verpackt werden, das sind Leichenhüllen aus Plastik, die luftdicht verschlossen sind.

Eine große Belastung auch für die Angehörigen

„Das ist sehr belastend für die Angehörigen“, sagt Wenzel. „Viele möchten zum Beispiel, dass ihren Verstorbenen noch einmal etwas Schönes angezogen oder auch Schmuck angelegt wird, bevor sie in den Sarg gelegt werden. Da müssen dann meine Mitarbeiter und ich die richtigen Worte finden, um den Leuten klarzumachen, dass das nicht geht.“

Die Gespräche, die man mit den Hinterbliebenen darüber führe, seien für ihn und seine Mitarbeiter sehr schwierig. „Das steckt man auch nicht so einfach weg, das geht nicht aus dem Kopf, wenn man abends heimgeht“, sagt Wenzel. Und was tut man dagegen? Er zuckt die Schultern. „Im Moment funktionieren wir alle irgendwie. Aber was wird nachkommen? Was hat die Krankheit mit uns Menschen gemacht? Das ist alles noch gar nicht abzusehen.“