Corona auf dem Oktoberfest: München zittert vor der „Wiesn-Grippe“
Die Zelte beim Oktoberfest sind voll und die Besucher lassen sich den Spaß nicht verderben.

Stundenlanges Warten vor den Eingängen, Ansturm auf die Bierzelte, glückliche Gesichter, ausgelassen singende und tanzende Menschen. Endlich wieder Oktoberfest. Nach zwei coronabedingt abgesagten Festen hieß es auf der Wiesn in München wieder: Ozapft is.
Obwohl es nasskalt ist und von einem Wiesn-Spätsommer keine Spur, strömen vor allem am Samstag die Massen heran. Schnell bilden sich lange Schlangen vor den Zelten, am frühen Nachmittag ging an mehreren Zelten nichts mehr: wegen Überfüllung geschlossen. „Es ist, als wenn nichts gewesen wäre“, sagt Mandelverkäufer Manfred Ziegler.
Am Sonntag dann bei mehr Regen und Temperaturen um zehn Grad ein schlapper Start, laut Festleitung kamen am ersten Wochenende 700 000 Gäste - aber auch das ist nicht so ungewöhnlich. „Ich glaube nicht, dass das mit Corona oder Wirtschaft zu tun hat, sondern: schlechtes Wetter“, erklärt Lebkuchenherz-Verkäufer Andreas Traut das verhaltene Geschäft. Die Schausteller haben, so fasst Frank Ritter vom Riesenrad zusammen, vor allem eine Hoffnung: „Besseres Wetter!“
Inflation, Energiekrise, Krieg – Oktoberfest wird trotzdem gefeiert
Alles scheint wie immer bei dem Volksfest, das oft das größte der Welt genannt wird. Und doch ist es anders. Jenseits des Festgeländes ist die Welt eine andere als bei der letzten Wiesn 2019: Inflation, Krieg, Energiekrise - und auch wenn auf dem Oktoberfest komplett ohne Corona-Auflagen gefeiert wird: Die Pandemie ist nicht vorbei.
Regelmäßig stiegen nach Volksfesten die Infektionszahlen sprunghaft an. Damit rechnen alle von der Wissenschaft bis zur Politik auch nach der Wiesn. Doch in den Zelten scheint bierseliges Vergessen angesagt.
Corona-Schutzmasken sind die absolute Ausnahme, dichtes Gedränge, die Krüge klirren - man kommt sich nah und näher. „Cordula Grün“ wird gegrölt, der Wiesn-Hit aus der prä-pandemischen guten alten Zeit. Hendl werden im Akkord an die Tische geschleppt - während kurz zuvor draußen Tierschutzaktivisten versucht haben, den Einzug der Wiesn-Wirte auf das Festgelände zu stoppen.

Karl Lauterbach will kein Spielverderber sein
Ministerpräsident Markus Söder, mit Ehefrau Karin Baumüller-Söder beim Anstich dabei, wirft ihnen Spielverderberei vor. „Es gibt immer jemanden, der den Spaß verderben will.“ Und er legt nach mit Blick auf den wegen Sexismus kritisierten Song „Layla“: „Diese ganze Verbotsdiskussion, die nervt. Wokeness mag interessant sein, aber wenn sie übertrieben ist, dann ist sie spießig. Und die Wiesn ist alles, nur nicht spießig.“
Die Wiesn sei ein „Fest von Freude und Freiheit“. Jeder solle singen, anziehen und essen, was er wolle, sagt der CSU-Chef. Er hatte sich stets für die Wiesn 2022 ausgesprochen. „Wir haben so schwere Zeiten hinter und, ich befürchte, noch so schwere vor uns. Umso wichtiger ist es dann, Kraft zu tanken.“
Einer, dem Kritiker gerne vorwerfen, er sei zu streng und habe etwas gegen Spaß, ist Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Ich möchte kein Spielverderber sein: Aber wer die Wiesn besucht, sollte trotzdem aufpassen“, sagt er und rät Vorerkrankten vom Besuch ab und ruft zum Testen auf.
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), der im April erst nach reiflicher Überlegung grünes Licht für die Wiesn gegeben und sich darüber auch mit Söder gehakelt hatte, sagt nun: „Es war eine gute Entscheidung, und ich freue mich, dass wir es gemacht haben.“
Nichts sei zu spüren von der immer wieder beschworenen Zurückhaltung, sagt Festleiter Clemens Baumgärtner (CSU). „Ganz im Gegenteil: ein übervolles Zelt.“
Nicht alle Münchner sind begeistert und fürchten Corona-Konsequenzen
Draußen, jenseits des Festgeländes, gibt es aber auch eine andere Stimmungslage. Mancher in München ist nicht begeistert über das Volksfest, das vor der Pandemie gut sechs Millionen teils von fern aus dem Ausland angereiste Gäste anlockte. Denn die vorhergesagte Corona-Welle nach dem Fest trifft nicht nur Volksfestbesucher.
Am Ende werde es heißen „Ogsteckt is“, mutmaßt ein Nutzer im Internet, wo auch von „Omikronfest 2022“ die Rede ist. Ein anderer schreibt, die geballte Unvernunft und Inkonsequenz deutscher Corona-Politik kumuliere nun im Oktoberfest.
Schon früher begann kurz nach dem Fest das Gehuste - die Wiesn-Grippe ging um. In der Enge der Zelte feiern die Viren mit, und nasse Kälte wie dieses Jahr macht es ihnen noch leichter.
Marianne Hartl, mit Ehemann Michael beim Anstich dabei, nennt die Rückkehr auf die Wiesn „ein unbeschreibliches Gefühl“. Etwas habe sich verändert: „Es ist nicht selbstverständlich. Die Leute wissen es zu schätzen, dass wir alle wieder da sein dürfen“, sagt sie und spricht von einer „großen Dankbarkeit“. Die Wiesn zu machen, das sei richtig. „Es muss ja weitergehen.“
Das sieht auch Stammgast Günter Werner (79) so. Nach der langen Corona-Pause sitzt er zum Anstich wie eh und je auf seinem Stammplatz. Auch diesmal hat er an jedem einzelnen Wiesn-Tag reserviert, wie seit über 60 Jahren. Mit frischem Hopfen und neuen Fasanenfedern am Hut sagt er: „Die Vorfreude ist riesig - Corona hab' ich gehabt, und wenn ich's wieder krieg', dann krieg' ich's halt.“