Mahnmal für das „Wiesn-Attentat“ auf dem Oktoberfest in München
Mahnmal für das „Wiesn-Attentat“ auf dem Oktoberfest in München Foto: imago images/Lindenthaler

Eine Stichflamme, ein Knall, Funken – dann mitten im bierseligen Oktoberfestausklang schreiende Menschen: Am 26. September 1980 um 22.19 Uhr explodieren am Wiesn-Haupteingang 1,39 Kilogramm TNT. Schrauben und Nägel erhöhen die Zerstörungskraft. Die Bombe reißt zwölf Festgäste in den Tod und verletzt mehr als 200. Auch der rechtsextreme Bombenleger Gundolf Köhler stirbt. Es ist der schwerste rechtsterroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik.

Eltern verlieren ihre Kinder, Liebende ihre Partner. Viele bleiben für ihr ganzes Leben gezeichnet. Robert Höckmayr (52), damals zwölf Jahre alt, wurde 42 Mal operiert; noch immer hat er Splitter im Körper. „Ich bin noch gelaufen, aber ich habe meinen Körper nicht mehr gespürt“, erinnert er sich. Um ihn „ein Trümmerfeld“ mit menschlichen Körpern und zerfetzten Kleidungsstücken. „Es war ein Horrorbild.“ Er und seine Geschwister wollen Papier und die Stäbe der Zuckerwatte wegwerfen, als die Bombe in einem Papierkorb explodiert.

Ein Sarg wird vom verwüsteten Tatort beim Oktoberfest weggetragen.
Ein Sarg wird vom verwüsteten Tatort beim Oktoberfest weggetragen. Foto: dpa/Frank Leonhardt

Zwei kleine Geschwister sterben vor seinen Augen. Die Eltern und zwei weitere Geschwister überleben. Die Schwester und der Bruder können laut Höckmayr die Folgen des Attentats nicht verarbeiten, sie begehen Suizid. Dimitrios Lagkadinos, damals 17, verliert beide Beine. Seine Freundin stirbt. Seine Trommelfelle seien gerissen gewesen, dennoch habe er die Schreie der Menschen gehört, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. „Diese Schreie gingen mir durch Mark und Bein.“

Noch in der Nacht werden die Spuren der Tat beseitigt. Der Boden, den die Bombe aufgerissen hat und auf dem gerade noch Tote und Verletzte lagen, wird asphaltiert. Knapp 13 Stunden später strömen wieder Gäste auf die Wiesn, es wird getrunken und gefeiert – während Ärzte in Kliniken um das Leben von Verletzten ringen. Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) schiebt Linken und Liberalen Mitschuld zu. Bald werden Ermittler von einem Einzeltäter sprechen, der aus Liebeskummer und privatem Frust handelte – obwohl der Geologie-Student Anhänger der verbotenen rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ war.

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Jahrzehntelang war es vor allem die DGB-Jugend, die das Gedenken zum Jahrestag aufrechterhielt. Dieses Jahr wird ein neuer Gedenkort eröffnet. Bei der Zeremonie werden nicht wie sonst erste Festgäste vorbeilaufen – das Oktoberfest ist coronabedingt abgesagt. Wie üblich kommt Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). Mit Markus Söder (CSU) ist aber erstmals ein bayerischer Ministerpräsident dabei – und als erstes Staatsoberhaupt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Vor einem Würstchenstand auf dem Oktoberfest 1980 sichern Polizisten Spuren.
Vor einem Würstchenstand auf dem Oktoberfest 1980 sichern Polizisten Spuren. Foto: Imago Images/Werek

„Dass der Bundespräsident kommt, ist sehr erfreulich“, sagt Renate Martinez. Sie überlebte knapp. Fünf Monate lag sie im Krankenhaus; sie ist heute gehbehindert. „Abgesehen davon, dass einem jeden Tag etwas wehtut: Es ist völlig unmöglich, das zu vergessen“, sagt die 73-Jährige. Sie begrüßt, dass nun die rechtsextreme Motivation erwiesen ist. „Wichtig ist vor allem die Anerkennung – wenn wir auch noch Geld bekommen, gut und schön.“ Denn mit dem Jahrestag werden wieder Forderungen nach einem Entschädigungsfonds für der Opfer laut. Martinez hatte sich an der Seite anderer, allen voran Opferanwalt Werner Dietrich und des Journalisten Ulrich Chaussy, für die Wiederaufnahme der Ermittlungen eingesetzt.

Denn bei den ersten Ermittlungen gab es zahlreiche Pannen: Zeugen wurden nicht ausreichend gehört, ein Fragment einer Hand verschwand spurlos. 48 Zigarettenstummel aus Köhlers Auto wurden vernichtet – heute hätten DNA-Spuren Hinweise liefern können. 504 Asservate wurden laut Dietrich vernichtet – angeblich aus Platzmangel. Die Akten wurden rasch geschlossen, das Verfahren eingestellt.

Im Juli stellte die Bundesanwaltschaft nach gut fünfeinhalbjährigen neuen Untersuchungen klar: Der Bombenleger Köhler wollte die damalige Bundestagswahl beeinflussen – und wünschte sich einen Führerstaat nach dem Vorbild des Nationalsozialismus. Schon früh war spekuliert worden, dass der Anschlag Linksextremen zugeschoben und so die sozialliberale Koalition diskreditiert werden sollte. Bei der Wahl am 5. Oktober, zehn Tage nach der Tat, trat Strauß als Unionskandidat gegen Kanzler Helmut Schmidt (SPD) an – Schmidt wurde bestätigt.

Köhler habe „vor der Gewaltanwendung zur Durchsetzung seiner demokratie- und verfassungsfeindlichen Einstellung“ nicht zurückgeschreckt, zitierte Dietrich aus der Einstellungsverfügung aus Karlsruhe. Mit seinem dritten Wiederaufnahmeantrag hatte er 2014 die von vielen geforderten Ermittlungen in Gang gebracht – etwa eineinhalb Jahre nach Beginn des Prozesses um die rechtsextremen Morde des NSU. Die Rufe nach Aufklärung waren damals noch lauter geworden. Bis heute glauben viele nicht, dass Köhler die Tat allein beging. Konkrete Ansätze zur Verfolgung etwaiger Hintermänner oder Komplizen wurden aber auch nach Prüfung Hunderter Spuren nicht gefunden.

Das Oktoberfest-Gedenken im Jahr 2014. In diesem Jahr wird mit Frank-Walter Steinmeier erstmals ein deutscher Bundespräsident anwesend sein.
Das Oktoberfest-Gedenken im Jahr 2014. In diesem Jahr wird mit Frank-Walter Steinmeier erstmals ein deutscher Bundespräsident anwesend sein. Foto: imago images/Michael Westermann

„Es ist sehr enttäuschend und bedauerlich, dass die Hintergründe des Oktoberfestattentats knapp 40 Jahre nach der grausamen Mordtat trotz intensiver Ermittlungen nicht mehr vollständig aufgeklärt werden konnten“, sagt OB Reiter. „Meine Gedanken sind in erster Linie bei den Überlebenden und ihren Angehörigen. Gerade für sie wäre es wichtig gewesen, endlich Klarheit über die genauen Tathintergründe und mögliche Mittäter zu erhalten.“

Ulrich Chaussy, der vier Jahrzehnte zum Wiesnattentat recherchierte, spannt auch den Bogen zum Doppelmord von Erlangen an Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke im Dezember 1980 – dem ersten gezielten antisemitischen Mordanschlag in Nachkriegsdeutschland. Jeweils hätten tote Einzeltäter am Ende der Ermittlungen gestanden, weder rechtsextreme Netzwerke noch das Hasspotenzial des Antisemitismus seien ernst genommen worden.