Umstrittene Smartphone-App
Drogen, Sex und Nazis: Wo in Berlin dank Telegram die Kriminalität blüht
Die App ist nicht nur bei Querdenkern beliebt. Sie zeigt Gruppen in der Nähe, die Drogenhandel oder Prostitution betreiben. Eine Nachtwanderung durch Berlin.

Gleich bei der Berliner Zeitung verkaufen sie Kokain: Nur 500 Meter vom Verlagsgebäude in Kreuzberg entfernt bietet eine Chatgruppe über das Internet Drogen an. Das verrät die Telegram-App auf meinem Smartphone. Nur ein paar Straßen weiter wird mir die Gruppe "Coke Cola 24/7" angezeigt, dekoriert mit Taxi- und Schneesymbol. Es ist recht klar, dass es sich um ein Kokstaxi handelt, einen Lieferservice für Rauschgift.
Über den Messenger-Dienst Telegram lassen sich nicht nur normale Nachrichten an Freunde und Bekannte verschicken, die App zeigt auch unbekannte Personen und Gruppen in der Nähe an. Das Tor in eine Parallelwelt, in der Drogendealer, Prostituierte, Verschwörungstheoretiker oder Nazigruppen in der Nachbarschaft sichtbar werden. Sie betreiben im Internet relativ ungestört ihr Geschäft, für jeden erkennbar, der die App nutzt.
Der Direktnachrichten-Dienst Telegram ist in Verruf, er gilt als der böse Zwilling von WhatsApp. Spätestens seit Querdenker, Attila Hildmann oder Michael Wendler über Telegram-Kanäle mindestens wirre Theorien verbreiten, ist der Messenger bekannt, gehört zu den meist heruntergeladenen Apps. Vor einem Jahr kannten Telegram fast nur technikaffine Menschen, denen Datenschutz wichtig ist. Doch ganz anonym ist es dort nicht.
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Im Corona-Lockdown lässt sich über die Telegram-Umkreissuche beobachten, was in Berliner Bezirken hinter verschlossenen Türen derzeit alles stattfindet. Also beschließe ich, mit dem Handy auf die Suche zu gehen.
Das Verbrechen scheint dabei oft nur einen Klick entfernt. In der Chat-Gruppe mit dem Schneesymbol dauert es zwei Nachrichten, bis mir Drogen angeboten werden. „Taxi?“, frage ich. „Was brauchst du?“, direkt die Antwort. Gute Frage. Ähm. „Kokain?“ Offenbar kein Problem. „Wie viel?“ Ich schreibe hier lieber nicht weiter.
Stattdessen rufe ich erst mal bei der Polizei Berlin an. Wenn die kriminellen Aktivitäten bei Telegram so offen zu sehen sind, warum werden sie dann nicht überwacht und unterbunden? Man sei an die Strafprozessordnung gebunden, erklärt mir ein Sprecher. Im Prinzip seien Chatgruppen wie ein privat gesprochenes Wort. Man dürfe ja auch nicht einfach abhören, was Menschen in ihren Wohnungen sagen. Und doch sind die Chat-Gruppen offen zugänglich, so dass Passanten mit Handy-App einfach mitlesen können.
Also ist es möglich, an einem verschneeregneten Abend unter der Woche mit einer Nachtwanderung das Telegram-Berlin zu erkunden. Ich laufe los, mit dem Handy in der Hand, nach Gruppen in der Umgebung suchend. In Kreuzberg sprechen mich erst einmal nur die Dealer am Schlesischen Bahnhof an - offline. „Yo. Alles gut?“ Direkt indirekt. Wie bei Telegram-Chats kommt man erst im Einzelgespräch zum Geschäftlichen.
Ich laufe weiter. Je nachdem, wo ich bin, ändern sich die angezeigten Gruppen in der Umgebung. „Partys in Berlin“, „Sextreffen“, „Alexanderplatz“, „Neukölln Weed“, „Patrioten in Ost - Berlin“. Einige Chats haben Hunderte Mitglieder, andere ein einziges. In einigen herrscht reger Austausch, in anderen Funkstille. Viele Gruppen sind unsichtbar, man muss erst eingeladen werden. Allein der geheime Kanal „Candyland“, wo Drogen angeboten werden, soll über 4000 Mitglieder haben. Zu sehen ist also oft nur die Spitze des Eisbergs.
Dennoch sind illegale Inhalte leicht zu finden. Anbieter fluten die öffentlichen Chats förmlich mit Werbung, es klingt wie eine Mischung aus Spam im E-Mail-Eingang und Shoppingkanal: „Verifizierter Verkäufer, Lieferung in Berlin. Nur das Beste vom Besten. Kolumbianisches Kokain, +81% Hohe Qualität.“ In den Gruppen sehe ich die immer gleichen Anbieter, sie nennen sich „Schneekönig Valentino“ oder „Yey Winterdienst“.
Nachfrage ist offensichtlich da. Immer wieder fragen Nutzer in den Gruppen offen nach Drogen wie Kokain oder Tilidin, Beruhigungs- oder Potenzmitteln wie Viagra. Sie bitten um private Nachrichten.
Als ich in eine Gruppe frage, wo es etwas zu feiern gäbe, antwortet ein „Privat Apotheker“, ich solle ihm direkt schreiben. Mache ich lieber nicht. Aber Herumfragen kostet ja nichts. Ermittler der Polizei hingegen, wurde mir erklärt, dürften sich im Chat genauso wenig nach Drogen erkundigen wie beim Dealer auf der Straße.
Währenddessen stehe ich neben der Polizeiwache am Alexanderplatz und beobachte tiktokartige Videos von Kokain-Waagen in der App.

Auf Nachfrage will die Polizei nicht ausschließen, dass sich mehr illegale Aktivitäten auf Telegram verlagert haben. Aber es gebe dazu keine Statistiken, Studien oder Auswertungen. Vielleicht, vermutet ein Beamter, fielen solche Aktivitäten im Lockdown nur mehr auf, weil die Leute zu Hause sind und Messenger benutzen.
Doch Staatsanwälte und Kriminalbeamte haben wohl auch Methoden zur Überwachung, über die sie nicht offen sprechen. Ende Oktober jedenfalls beschlagnahmten Fahnder bei deutschlandweiten Razzien neun Telegram-Gruppen mit etwa 8000 Mitgliedern, über die Drogen, Waffen und gefälschte Dokumente gehandelt wurden.
In den meisten Chats, die ich an jenem Abend sehen kann, geht es um Drogen. Doch selbst Gold- und Devisenhandel, Bahntickets, Silvesterfeuerwerk oder Computerzubehör werden gesucht und annonciert, ohne dass sicher ist, ob Verkäufer und Ware wirklich existieren. Unterschiede zwischen den Bezirken sind kaum feststellbar, in Mitte fällt an jenem Abend lediglich mehr Prostitution auf.
Frauen und Männer bieten sexuelle Dienste mit expliziten Fotos an. Es wäre mir sehr peinlich, wenn jetzt ein Passant auf mein Handy schauen würde. Aber die Nutzer bleiben anonym, man sieht ihre Telefonnummern nicht - und auf auf welchen Servern die Bilder gespeichert werden, verrät das russische Unternehmen nicht.
Telegram löscht nur selten Inhalte, laut einer Studie der Organisation Jugendschutz.net nur jeden zehnten rechtsextremen Beitrag. Manche Administratoren weisen in Verhaltensregeln darauf hin, dass nichts Illegales geteilt werden solle. „NS Verherrlichungen werden nicht geduldet“, heißt es bei den „Patrioten in Ost-Berlin“. Dafür werden Inhalte geteilt, die Corona verharmlosen, Impfen verteufeln und Minderheiten verunglimpfen.
Manche Gruppen verlinken wiederum auf Untergruppen, wo man sich unbeobachtet austauschen könne. Die Administratoren schreiben, den Hauptchat mit festem Standort gebe es nur, um leichter gefunden zu werden.
An großen Plätzen gibt es auch öffentliche Gruppen wie „Alexanderplatz“ oder „Zoologischer Garten“. Besucher führen dort oft harmlosen Smalltalk, doch viele machen explizite Angebote oder fragen danach. Wer die Nutzer jeweils sind, lässt sich nur schwer nachvollziehen. In dem Chat „Humboldt-Universität zu Berlin“ nehme ich an einer Umfrage teil. Das Ergebnis: Die Mehrheit in der Gruppe studiert nicht an der Hochschule.
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In der „Flat Earth Society TU Berlin“ wird auch nicht über die Theorie einer flachen Erde diskutiert, sondern virtuell das Kartenspiel UNO gespielt. Auch andere Gruppen suchen nur Interessierte für Tischtennis- oder Brettspiele. Der Administrator von „Handwerker36“ stellt fest, der Gruppenname sei nicht zweideutig gemeint.
Ob es bei Telegram wirklich zu den diskutierten Geschäften kommt, lässt sich nicht überprüfen. Womöglich verlieren sich hier viele Leute aus Langeweile in Fantasien. Zumindest zeigt die App die Sehnsüchte in der Corona-Isolation.
In einigen Chats stehen Nutzer noch virtuell Schlange vor Techno-Clubs wie dem Berghain oder KitKat. Ein Schüler fragt in einem Gruppenchat, wo man die Lösungen für die Tests der Lehrer herbekomme. In der Gruppe „Party in friedrichsain :)“ schreibt ein Nutzer: „Ist denn hier drüber tatsächlich schon mal was gegangen?“, ein Anderer antwortet trist: Nein. Manche Chats wie „Christmas Alone“ oder „Lockdown Treff/Beziehung“, mit jeweils nur einem Nutzer und ohne Antworten, lassen erahnen, wie einsam manche Menschen derzeit sind.
Am Ende des Rundgangs erfahre ich tatsächlich über die Telegram-Gruppe „Nachtleben Berlin“, dass der Lockdown bis Ende des Januars verlängert wurde. Eine gute oder eine schlechte Nachricht für die nächtlichen Chat-Gruppen im Internet? Ein Nutzer kommentiert: „Scheiße, aber scheinbar notwendig.“