Flaschenwürfe, brennende Autos, fliegende Steine : Nach Liebig 34-Randalen: Streifzug durch ein Scherbenmeer
Flaschenwürfe, brennende Autos und Rangeleien: So endeten Freitagabend in Mitte die Proteste gegen die Räumung des Hauses „Liebig 34“.

Eine ältere Frau steht vor einem Porzellanladen in der Alten Schönhauser Straße in Mitte, und sieht einer Angestellten zu, die Scherben mit einem Handfeger wegkehrt. Die Scheibe des Geschäfts „Motel Amio“, in dem portugiesische Keramik verkauft wird, ist zerborsten.
Die Passantin fotografiert mit ihrem Handy das kaputte Glas. „Meine Söhne wohnen im Ausland, sie sollen sehen, was hier los ist. Es ist unfassbar. Wie kann man einfach alles zerstören? Es gibt so viele Menschen in diesem Land, die wissen gar nicht, wie gut es ihnen geht. Ich bin entsetzt.“
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Die Angestellte des Keramikgeschäfts, Nele Soral, entsorgt die Splitter. Sie lebt in Friedrichshain und ist in der Nacht von Freunden alarmiert worden. Sie schrieben ihr auf Whatsapp, dass es in der Alten Schönhauser krache. Dass 1000 Chaoten durch Mitte zögen – als Antwort auf die Räumung des Hauses in der Liebigstraße 34 in Friedrichshain. Als sie morgens kam, sah sie die Zerstörung. „Dass es so schlimm ist, hätte ich nicht für möglich gehalten. Es ist grauenvoll.“ Sie sei froh, dass nichts geplündert wurde. Vor der Scheibe liegt noch der Pflasterstein, mit dem die Scheibe eingeschlagen worden ist. Sie hebt ihn auf. „Was ist, wenn solche Brocken Menschen treffen?“
Auf der Alten Schönhauser Straße sind die Glaser angerückt
Es ist Vormittag in Mitte. Die Geschäfte öffnen, die ersten Kunden kommen. Vor einem asiatischen Bekleidungsladen unten am Hackeschen Markt bildet sich eine Schlange, auf dem Markt läuft das Geschäft eher schleppend. „Wer kommt nach solch einer Nacht?“, mutmaßt eine Frau, die Schmuck verkauft. Gegenüber liegt die Bahnhaltestelle der M1 in Schutt und Asche, ein Scherbenmeer verteilt sich auf dem Bahnsteig. Eine Touristin bleibt stehen, sagt: „Was für grässliche Bilder. Und das in Zeiten von Corona. Als ob die Menschen nicht andere Probleme hätten.“ Auf der anderen Seite liegt die „Fun Factory“, ein Sexspielzeugladen. Dort zertrümmerten die Demonstranten in der Nacht die Eingangstür. Sie ist mit Holzleisten gesichert.
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Auf der Alten Schönhauser Straße sind die Glaser angerückt. Sie kleben die Scheiben ab, sorgen für eine Notverglasung. Bis die neuen kommen, könne es zwei Wochen dauern, sagt ein Mitarbeiter, der vor einem Brillengeschäft die Scheibe sichert. Claas Witzel, Chef von „Specs Berlin“ steht in seinem Laden, die Polizei ist bei ihm. „Heute Nacht liefen die Bilder über Twitter, mein Geschäft war auch dabei. Da wusste ich, was mich erwartet“, sagt er schulterzuckend. Vor ein paar Jahren habe es die Meile schon einmal getroffen.
Mitte im Ausnahmezustand – nach einer Nacht, in der die Gewalt eskaliert ist. „Nehmt Ihr uns die Häuser ab, machen wir die City platt“, riefen die vorwiegend jungen, schwarz gekleideten Demonstranten. Am Hackeschen Markt eskalierte die Demonstration dann gegen 22 Uhr. Es flogen Flaschen und Steine in Richtung Polizei. Feuerwerkskörper wurden gezündet, Wartehäuschen demoliert und Straßen mit Hindernissen blockiert. Ein Angestellter aus einem Jeansladen: „Das war pure Zerstörungswut. Und es trifft nicht die Kapitalisten, die die linken Autonomen ja so schlimm finden. Es trifft die, die gerade in der Corona-Zeit um ihre Läden und Jobs bangen. Oder Autofahrer, die jetzt auf den Kosten sitzenbleiben, weil deren Wagen zertrümmert oder abgefackelt worden sind.“
In der Liebigstraße ist Ruhe eingekehrt. Doch wie lange?
Etwa 17 Autominuten entfernt, in der Liebigstraße 34 in Friedrichshain, ist die Lage ruhig. Sicherheitskräfte haben gegen 12 Uhr die Absperrungen beseitigt, Mitarbeiter des Ordnungsamts räumen das Haus, das am Freitag geräumt worden ist. Menschen stehen dabei, um mitzuerleben, wie ein Symbol der linksradikalen Szene, um das lange heftig gestritten wurde, mit einem Mal Geschichte zu sein scheint.
Nach 30 Jahren, nach drei Jahrzehnten Wiedervereinigung ließen sich 57 Personen am Freitag fast schon widerstandslos abführen. „Es ging so sang und klanglos vorbei, plötzlich war das Haus leer – und das nach jahrelangem Gezerre“, sagt Martina Brinkmann, Anwohnerin aus der Rigaer Straße. Sie steht vor dem bunten Haus und weiß gar nicht, was sie empfinden soll. „Ich bin grundsätzlich jemand, der soziale Projekte wie die der Frauen in der Liebig 34 unterstützt, nur es darf nicht zu Gewalt kommen“, sagt sie. Im Kiez habe es seit Jahren gegoren. Alt gegen Jung. Reich gegen Arm. Vermeintliche Spießer gegen Alternative. Anzugträger wurden von Punks angepöbelt. „Nachts war ein Wahnsinns-Krach, ständig explodierten Feuerwerkskörper, ich bin froh, dass es vorbei ist. Und hoffe, dass nun endlich Frieden einkehrt“, sagt Hans-Peter Jakolat, der um die Ecke wohnt.
Frieden? „Das wird sich nicht ändern“, sagt ein Mann, der ein Cafe betreibt. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Zu oft sei er zwischen die Fronten geraten. Mal stiegen ihm die Punks auf die Hütte, weil er verstand, wenn sich Nachbarn wegen Pöbeleien oder Lärmbelästigung beschwerten. Dann stiegen ihm die „Neureichen“, wie er sie nennt, aufs Dach, weil er auch die Autonomen in Schutz nahm. „Zu viele Interessen“, sagt er.
Wem gehört der Kiez?
Eine Frau, die bei ihm ein Sandwich isst, mischt sich ein: „Ja, aber die Anzugsträger haben hier nichts zu suchen. Der Kiez wird immer unbezahlbarer, viele müssen in die Randbezirke ziehen und jetzt haben sie uns auch noch die Liebig 34 weggenommen.“ Der Geschäftsinhaber nickt: „Die Krawalle in Mitte werden auch nicht die letzten gewesen sein. Und gewiss auch nicht die in der Liebigstraße und dem Umfeld.“ Es klingt wie eine Kriegserklärung.
Doch wem gehört der Kiez? Eine junge Frau, die ebenso ihren Namen nicht nennen möchte, antwortet: „Allen, und auch die Frauen aus der Liebig 34 hatten ihre Berechtigung.“ Martina Brinkmann macht das nachdenklich: „Ich würde sagen, dass der Kiez nicht nur einer Gruppe gehören darf, sondern denen, die hier eine Wohnung finden. So einfach ist das ja auch nicht mehr in Berlin. Wir dürfen uns nicht gegenseitig ausgrenzen.“ Und sie erwarte mehr Solidarität – von allen Seiten.