Die den Hals nicht vollkriegen: Wie Polizei und Kassen betrügerische Ärzte jagen – und wie milde Berlins Justiz mit ihnen umgeht
Kriminalpolizei und Krankenkassen auf der Spur des Abrechnungsbetrugs im Gesundheitswesen: Frustration über geringe Strafen für Erwischte

Jörg Engelhard ist einer der wenigen Polizisten, die es ausnahmslos und immer mit Unschuldigen zu tun haben. Genauer: Die sagen, sie seien unschuldig, selbst wenn sie gewissermaßen mit der Hand im Bonbonglas erwischt wurden. Jörg Engelhard ermittelt im Reich der weißen Kittel. Er leitet das Berliner Fachkommissariat 346 gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen, die bundesweit laut Schätzungen zweistellige Milliardenschäden verursachen.
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Rund 300 Anzeigen hat das Berliner Kommissariat 2022 auf dem Tisch gehabt, davon weit über die Hälfte wegen betrügerischer Corona-Teststellen, 15 Prozent wegen mauschelnder Pflegedienste, 15 Prozent „Sonstiges“ und nur acht Prozent gegen Ärzte.
„Dieser kleine Anteil der verdächtigen Ärzte wird wieder wachsen“, erwartet der Erste Kriminalhauptkommissar. Denn der Anteil der Teststellen-Schwindler, die viel Arbeit machten, geht zurück, weil kaum noch Tests gebraucht werden. Ihre Betrügereien hatten dazu geführt, dass die „346“ von einem Dutzend auf 18 Ermittler anwachsen musste.
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Ermittelt wird fast ausschließlich nach Anzeigen, gestellt von Krankenkassen, Kassenärztlicher Vereinigung oder Privatpatienten, die sich über seltsame Rechnungen gewundert hatten. Engelhard (57): „Unser Ziel ist die Bekämpfung des systematischen Betrugs.“

Die Teststellen-Schwindler
Bei den Berliner Gerichten laufen erst wenige Verfahren wegen Teststellen-Betrugs in Berlin. Vor dem Amtsgericht Tiergarten wird gegen einen Mann wegen Betruges verhandelt, der ausgerechnet gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung am Messegelände ein Testzentrum hatte. Er soll Tests abgerechnet haben, die nicht stattfanden. Der Schaden soll bei 50.000 Euro liegen. Weitere Verfahren sind noch nicht terminiert.
Vor dem Landgericht steht ein Geschwisterpaar, das mit mehreren Teststellen deutlich mehr abkassiert haben soll und deshalb wegen besonders schweren Betrugs beziehungsweise Beihilfe dazu angeklagt ist: Die Frau soll 2,5 Millionen Euro, der Mann 9,7 Millionen Euro eingestrichen haben. Der Prozess begann bereits am 15. August, es gab schon 22 Verhandlungstage, und für März sind bereits drei weitere angesetzt.
Ein Berliner, der mit nicht existenten Testzentren in Baden-Württemberg 650.000 Euro erschlich, wurde zu drei Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt. 240.000 Euro wurden sichergestellt, der Rest ist angeblich verjubelt.
Engelhard (Erkennungszeichen: Kleidungsstil englischer Landadel) könnte ein Buch über die Dreistigkeiten der „Unschuldigen“ schreiben, die ihm seit seinem Einstieg in das Thema 1997 begegnet sind.
Huch, dieser Herr Doktor ist aber sehr fleißig!
Da gibt es Praxen mit mehreren Ärzten einer Fachrichtung, von denen aber nur einer eine bestimmte Behandlungsqualifikation hat, und auch nur er diese Behandlung gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen darf.
Die Behandlung machen jedoch alle Ärzte der Praxis und rechnen sie dem Kollegen zu. So etwas fällt den Kassen irgendwann auf, weil der Spezialist jeden Tag 14 Stunden arbeiten müsste, um all diese Behandlungen schaffen zu können.
Besonders grotesk der Fall eines Fitness-Studios, das behauptete, mit einer Krankenkasse zu kooperieren: Die sei über sportliche Betätigung ihrer Mitglieder erfreut und ermögliche einen Rabatt für einen Monat.
Das lockte die Kunden, die ihre Kassen-Chipkarten im Fitness-Studio einlesen ließen. Dumm nur: Es gab gar keinen Vertrag mit der Kasse, das Geld für den Rabatt holte sich das Studio auf anderem Wege.
Fitness-Studio, Orthopäde und Schuhmacher bildeten Abzocker-Kartell
Die Daten der Kassen-Karten landeten nämlich nicht bei der Krankenkasse, sondern bei einem Orthopäden. Der schrieb für seine „Patienten“ Rezepte für orthopädische Schuhe, die bei einem orthopädischen Schuhmacher landeten.
Der machte natürlich keine Schuhe, aber die Rechnung von rund 1000 Euro pro Fall bei der Kasse geltend. Die Einnahme wurde mit dem Arzt und dem Studio geteilt.
In aller Regel erscheinen die Beamten des LKA 346 nicht mit leeren Händen zu einer Durchsuchung, sondern haben verdächtige Abrechnungen dabei. Richtet sich der Verdacht gegen einen Arzt, wird die Praxis dann meist dezent wegen „technischer Störung“ geschlossen. Der Praxisbetrieb soll nur kurz unterbrochen werden, erklärt Engelhard.
Manchmal kommt der Beweis illegalen Tuns dann leibhaftig durch die Tür. Engelhard: „Wir haben hinten eine Praxis durchsucht, vorne am Empfang blieb eine Kollegin, natürlich in Zivil. Kommt ein Mann rein, ‚Ick brauch ne Krankschreibung‘. Die Mitarbeiterin des Arztes sagt wegen der Kollegin, er möge sich hinsetzen und auf die Untersuchung warten. Da wurde der Mann deutlich: ‚Ick will ne Krankschreibung und keene Untersuchung, so wie seit fuffzehn Jahren.‘“
Angeblich kranker Arzt verdiente bei der Polizei dazu
Bei einem Fall bekommt Engelhard das Grinsen. Ein niedergelassener Arzt war Teil eines Mediziner- Verbunds, der sich im 4. Quartal gegenseitig illegal Patienten zuschusterte. So wollten sie im Folgejahr ein höheres Budget von den Kassen erschleichen. Der Arzt wurde angeklagt, erschien aber nie vor Gericht, wegen Krankheit. Engelhard: „Irgendwann reichte es der Justiz, sie erließ einen Haftbefehl.“
Dann half der Zufall. Der Hauptkommissar erzählte einer Kollegin von dem Fall, und die sagte: „Den kenne ich, der arbeitet bei uns.“ Nämlich in einem Polizeigewahrsam, wenn kein Polizeiarzt verfügbar war, um Festgenommene zu untersuchen.
Der „kranke“ Arzt wurde alarmiert, weil er doch dringend im Gewahrsam Friesenstraße gebraucht werde, erschien, nahm Platz, und Engelhard betrat den Raum. „Da ist ja schon mein erster Patient“, erklärte der Arzt. Engelhard: „Nicht ganz …“.

Milde Strafen bei Gericht bedeuten auch sonst: Kaum Konsequenzen für Schwindel-Ärzte
Man weiß nicht genau, was Engelhard davon hält, dass die meisten Verfahren vor Gericht mit Bußgeld oder Strafbefehlen ausgehen, wenn er von den Konsequenzen seines Tuns berichtet. Wo es doch in seinen Fällen mindestens um 20.000, vielfach bis 100.000 Euro und mehr Schaden geht.
Denn die vergleichsweise Milde der Sanktionen hat eine Folge: „Berufsrechtliche Ahndungen“ durch die Berliner Ärztekammer sind rar. Ihr Sprecher Ole Eggert teilte dem KURIER mit: „In den letzten fünf Jahren ist der Ärztekammer Berlin keine einzige strafrechtliche Verurteilung wegen eines Korruptionsdeliktes übermittelt worden.“
Zwei Verurteilungen binnen fünf Jahren bei der Ärztekammer
Man habe auch keine genauen Zahlen zu eingegangenen strafrechtlichen Verurteilungen wegen Abrechnungsbetrug vorliegen. „Das liegt daran, dass viele Fälle durch die Strafjustiz gemäß Strafprozessordnung nach Zahlung einer Geldauflage eingestellt werden. Daher werden die Fälle hier nicht oder nur in Einzelfällen bekannt. Im berufsgerichtlichen Verfahren gab es in den letzten fünf Jahren zwei Verurteilungen wegen der Ausstellung nicht gerechtfertigter oder nur zum Teil gerechtfertigter Abrechnungen privatärztlicher Leistungen.“
Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin teilte mit, sie überprüfe die Abrechnung der Kassenärzte auf Richtigkeit. „Fehlerhafte Abrechnungen werden berichtigt. Beruhen die Abrechnungsfehler auf einer groben Verletzung der Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Erstellung der Abrechnungen, liegt eine Verletzung vertragsärztlicher Pflichten vor.“
In den vergangenen fünf Jahren seien wegen der Verletzung vertragsärztlicher Pflichten mehrere Disziplinarverfahren durchgeführt worden. Dabei gab es 2018 und 2022 jeweils einen Verweis beziehungsweis eine Verwarnung. Die Zahl der von der KV verhängten Geldbußen, insgesamt zehn seit 2018, stieg von je einer 2018, 2019 und 2020 auf drei 2021 und vier im vergangenen Jahr. „Es gab keinen Fall eines Zulassungsentzugs wegen Betrugs oder Korruption in den letzten fünf Jahren.“
Ralf Selle (57) ist bei der AOK Nordost Beauftragter zur Bekämpfung von Fehlverhalten. Er forscht mit sieben Kollegen nach schwarzen Schafen im Gesundheitswesen Berlins, Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns.

Wer die Kasse betrügt, sollte nicht ehebrechen
„Häufig bekommen wir Hinweise auf Abrechnungsbetrug durch Whistleblower“, sagt Selle, der eng mit Engelhard kooperiert, dem KURIER. „Das kann die betrogene Gattin des Arztes sein, die in der Praxis mitgearbeitet hatte, eine Arzthelferin oder ein Pflegedienstmitarbeiter, die ‚ihr Gewissen erleichtern‘ wollen und sich bei den Fehlverhaltensstellen der Kassen melden.“ Stellen, die im Sozialgesetzbuch 5 vorgeschrieben sind.
Andere Quellen sind Mitteilungen der Polizei, die in den Hochzeiten des Teststellenbetrugs aber zurückgingen, und Erkenntnisse der eigenen Fachabteilungen der AOK, wenn denen Abrechnungen von Ärzten und anderen Leistungserbringern eigentümlich vorkommen.

Vor allem aber helfen Prüfroutinen und künstliche Intelligenz, die unplausible Abrechnungen feststellen. Zum Beispiel, wenn ein Sanitätshaus oder eine Physiotherapie 90 Prozent ihrer Einnahmen durch Verschreibungen eines einzigen Arztes erzielt.
Selle: „Da gibt es dann Rückflüsse von Geld, sodass beide Seiten etwas davon haben.“
Zwar gilt für gesetzlich Versicherte, dass sie die freie Wahl haben, wo sie Medikamente beziehen oder Krankengymnastik bekommen. Aber das wissen viele nicht. Bei Befragungen sagen die Patienten dann: „Der Arzt hat uns da hingeschickt.“
Der schnelle Weg zum gegenseitigen Nutzen von Arzt und Apotheker
In dreisteren Fällen wandert das Rezept gar nicht zum Patienten, sondern aus der Praxis in der ersten Etage gleich zum Apotheker im Erdgeschoss. Noch schlimmer, wenn Rezepte ausgestellt werden, von denen der Versicherte nichts weiß, und von der Apotheke bei der Kasse abgerechnet werden – ohne, dass ein Medikament über den Tresen ging, aber zum gegenseitigen Nutzen von Arzt und Apotheker …
Ralf Selle: „Bekommen wir davon Wind, werden die Bestellungen der Apotheke mit den Verkäufen abgeglichen.“ Problematisch dabei sei, dass schwierig festzustellen ist, wie lange so ein Schwindel läuft.
Laut Schadensbericht 2020/2021 (sie erfolgen alle zwei Jahre) ermittelte die AOK Nordost einen Schaden von knapp fünf Millionen Euro, angefangen von Pflegediensten über Kassenärzte und Krankenhäuser bis hin zu Hebammen.
Über gesicherte Forderungen konnten allerdings nur 1,1 Millionen Euro zurückgeholt werden. Was vor allem daran lag, dass im Bereich des eigentlichen Gesundheitswesens wegen der vielen Corona-Teststellenbetrüger deutlich weniger von der Polizei ermittelt wurde. Selle: „Wir können das nicht ausgleichen, wir sind keine Fahnder.“
Vor Corona konnte das Doppelte bis Dreifache zurückgeholt werden.
Es sei auch nicht einfach, Geld bei Abrechnungsbetrügern einzutreiben, und sei es im Wege eines Vergleichs: „Manche gehen in die Insolvenz, andere tauchen unter. So wie eine Ärztin, die ihre Zulassung als Kassenärztin erschlichen hatte und dann nach Skandinavien verschwand.“
Eigentlich müsste die Staatsanwaltschaft in Berlin deutlich mehr Gewicht auf den Gesundheitsbereich legen, um des Phänomens Herr zu werden. Ralf Selle: „Seit Jahren fordert die AOK, dass in allen Bundesländern Schwerpunktstaatsanwaltschaften eingerichtet werden, die sich ausschließlich auf das sehr komplexe Thema „Korruption und Betrug im Gesundheitswesen“ konzentrieren. In Berlin gibt es nur eine knappe Handvoll Staatsanwälte, die sich im Rahmen der gesamten Wirtschaftskriminalität damit befassen.“
In Brandenburg sei die Situation gegenwärtig ähnlich einzuschätzen. „Für eine effiziente Fehlverhaltensbekämpfung sind jedoch auch entsprechend ausgestattete Ermittlungsbehörden notwendig.“
Bayerns Justiz schlägt bei Abrechnungsbetrug härter zu
Wie in Bayern. Dort seien es elf Staatsanwälte, die sich ausschließlich um Betrug und Korruption im Gesundheitswesen kümmern, unterstützt von Betriebswirten und IT-Fachleuten, die ihnen zuarbeiten.
Einstweilen schöpft Selle Hoffnung aus der „generalpräventiven“ Wirkung seiner Tätigkeit und der der Polizei. Also der Abschreckung. So gibt es eine Studie, dass dadurch Schäden zulasten der Versicherten in Höhe des 3,5fachen des festgestellten Schadens ausbleiben. Das wären allein bei der AOK Nordost über 17 Millionen Euro.
Selle sagt aber auch: „Die Mehrzahl unserer Vertragspartner und Dienstleister im Gesundheitswesen rechnet ordnungsgemäß ab." So zeige die Auswertung im Fehlverhaltensbericht 2020/2021, dass nicht hinter jedem Verdachtsfall ein Betrug stecke und auch nicht jeder Verdacht sich erhärte.

Die Arbeit wird Engelhard und Selle dennoch nicht ausgehen. Ist die Findigkeit der Täter doch grenzenlos, wie bei dem gierigen Apotheker unter Engelhards „Kunden“: Der hatte den Keller voller Handtücher, Windeln, Seifen oder Parfum. Er betrieb nämlich einen schwunghaften Handel. Wer zum Beispiel ein Parfum für 80 Euro wollte, musste ein Rezept über 160 Euro bringen. Das verschriebene Medikament gab es nicht, dafür das Parfüm, und die Kasse zahlte …