Aus der U-Haft in den Bundestag. Dort schwieg sich der ehemalige Wirecard-Vorstandschef Markus Braun vor dem Untersuchungsausschuss aber aus.
Aus der U-Haft in den Bundestag. Dort schwieg sich der ehemalige Wirecard-Vorstandschef Markus Braun vor dem Untersuchungsausschuss aber aus. Foto: Fabrizio Bensch/Reuters Images Europe/Pool/dpa

München - Gangster im feinen Zwirn, zentnerweise Unterlagen, endlose Zahlenkolonnen: Polizisten, Staatsanwälte, Wirtschaftsexperten und am Ende Richter werden Jahre damit zu tun haben, den Milliarden-Skandal von Wirecard aufzuklären. Über mindestens fünf Jahre hinweg sollen die österreichischen Bosse des DAX-notierten Zahlungsdienstleisters, von denen einer auf der Flucht ist, durch „gewerbsmäßigem Bandenbetrug“ rund um den Globus Banken und Investoren systematisch belogen haben - bis zum Insolvenzantrag im Juni.

Die juristische Aufarbeitung wird aller Voraussicht nach länger als fünf Jahre dauern. Der Abschluss der Ermittlungen ist nicht in Sicht, erklärte Oberstaatsanwältin Anne Leiding, Sprecherin der Münchner Staatsanwaltschaft. Wie viele Beschuldigte es mittlerweile sind, enthüllt Leiding nicht - „deren Zahl ändert sich ständig“.

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Eine der Schlüsselfiguren, Jan Marsalek (40), ist auf der Flucht. Erst hieß es, er sei auf den Philippinen oder in China untergetaucht, dann, er sei über Belarus nach Russland gereist. Dort stehe er (und sein Geld) unter dem Schutz eines Geheimdiensts, mit dem er schon vorher Kontakt hatte. Das klingt insofern plausibel, weil er sich in Geheimdienstkreisen  wichtig tat und V-Mann des österreichischen Verfassungsschutzes gewesen sein soll.

Die Staatsanwaltschaft hat ihr Wirecard-Team seit dem Sommer von sechs auf zehn Ermittler aufgestockt. Ende Januar wird sich entscheiden, ob Ex-Vorstandschef Markus Braun (51) - Österreicher wie Marsalek - auf freien Fuß kommt. Nach einem halben Jahr in Untersuchungshaft steht der Haftprüfungstermin bevor.

Mit einem mutmaßlichen Schaden von über drei Milliarden Euro ist die Bilanzmanipulation beim einst bewunderten „Erfolgs“-Konzern Kandidat für den größten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bisheriger Rekordhalter ist das badische Unternehmen Flowtex, das in den 1990er Jahren mit dem Verkauf nicht existenter Spezialbohrmaschinen zwei Milliarden Euro erschwindelte.

Ermittlungen bis Südostasien

Kompliziert werden die Ermittlungen auch, weil Schauplätze in Dubai und Südostasien liegen. „Wir haben zahlreiche Rechtshilfeersuchen gestellt und europäische Ermittlungsanordnungen beantragt“, sagt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft. 

Die Wirecard-Chefetage soll spätestens 2015 beschlossen haben, die Bilanzen mit Scheingeschäften aufzublähen. Eingeräumt wurden Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro. Die Anwälte der Manager haben sich bislang nicht inhaltlich zu den Vorwürfen geäußert, auch Vorstandschef Braun sagte dazu bei seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss des Bundestags nichts.

Noch sehr viel länger dauern als das Strafverfahren könnte die Entschädigung der Gläubiger im Insolvenzverfahren dauern. Bei Flowtex waren es zwei Jahrzehnte. Bis zur Wirecard-Gläubigerversammlung im November hatten Banken, Investoren, Geschäftspartner und Aktionäre insgesamt zwölf Milliarden Euro an Forderungen angemeldet. Das ist noch nicht das Ende. „Derzeit erreichen uns täglich noch weitere Forderungsanmeldungen“, sagt ein Sprecher von Insolvenzverwalter Michael Jaffé und spricht von „zehntausendfach eingegangenen Anmeldungen“. Die Verluste der  Aktionäre sind noch viel größer als der Betrugsschaden: Die Wirecard-Papiere haben binnen zwei Jahren über 20 Milliarden Euro eingebüßt. 

Keine gute Laune vor dem Münchner Löwenbräukeller, wo sich am 18. November Gläubiger von Wirecard trafen. Das sehr große Lokal wurde vom Amtsgericht gebucht, um viele Menschen bei der Gläubigerversammlung coronasicher einladen zu können. 
Keine gute Laune vor dem Münchner Löwenbräukeller, wo sich am 18. November Gläubiger von Wirecard trafen. Das sehr große Lokal wurde vom Amtsgericht gebucht, um viele Menschen bei der Gläubigerversammlung coronasicher einladen zu können.  Foto: Sven Hoppe/dpa

Von Wirecard wird am Ende wenig bleiben. Das Kerngeschäft, die Abwicklung von Kartenzahlungen, ist bereits an die Bank Santander verkauft.

Wirtschaftsprüfer im Zwielicht

Neben Straf- und Insolvenzverfahren steht eine Vielzahl von Zivilklagen. Die meisten richten sich gegen die EY-Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die die Wirecard-Bilanzen testierte. In Stuttgart sind mittlerweile knapp 70 Klagen gegen EY eingegangen, in München knapp 20. EY äußert sich dazu nicht. Gegen Braun dagegen ist am Münchner Landgericht erst eine Schadenersatzklage anhängig. Manche Geschädigte versuchen jedoch sicherzustellen, dass ihm kein Cent seiner einstigen Milliarden bleibt: Am Münchner Landgericht sind über 80 Arrestbeschlüsse gegen Brauns Vermögen beantragt.