Berlin: Jeden Tag gibt es drei antisemitische Vorfälle in der Hauptstadt
Juden werden beschimpft, bedroht und für Corona verantwortlich gemacht. Trotz der Pandemie-Einschränkungen ist die Zahl antisemitischer Vorfälle in Berlin gestiegen.

Ein Mann, der sich von einem Bekannten mit der Freitagsformel „Schabbat Schalom“ verabschiedet, wird in Mitte von zwei Männern nachgeäfft. In Schöneberg wird das Denkmal für die Synagoge in der Münchener Straße mit Runen und einem Hakenkreuz beschmiert. In Tempelhof wird ein Fenster der Wohnung eines Rabbiners eingeschlagen. In Pankow wird eine Frau, die mit ihren Kindern hebräisch spricht, deshalb als „Abschaum“ beschimpft.
Mehr als 1000 antisemitische Vorfälle in Berlin
Dies sind nur einige Beispiele für die durchschnittlich drei antisemitischen Vorfälle, die sich jeden Tag in Berlin ereignen. Ein Teil dieser Ereignisse hat die Grenze zur Strafbarkeit nicht überschritten. Und doch beeinträchtigen sie zum Teil massiv das Leben jüdischer Menschen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) dokumentierte im vergangenen Jahr insgesamt 1004 solcher Vorfälle. Nach einem Rückgang im Jahr 2019 ist das wieder eine Zunahme um 118 Fälle – trotz der durch Corona bedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens.
Unter diesen Vorfällen waren 17 körperliche Angriffe, 43 gezielte Sachbeschädigungen jüdischen Eigentums wie zum Beispiel Schmierereien, 51 Bedrohungen, 123 antisemitische Massenzuschriften, die sich an einen größeren Kreis von Personen richten, und 770 sogenannte Fälle verletzenden Verhaltens. Unter letzterer Kategorie erfasst Rias sämtliche antisemitischen Äußerungen gegenüber jüdischen oder israelischen Personen oder Institutionen, aber auch antisemitische Beschimpfungen oder Kommentare gegenüber Personen und Institutionen. Auch Beschädigungen oder das Beschmieren nichtjüdischen Eigentums gehören dazu.
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Rias dokumentierte pandemiebedingt eine starke Zunahme antisemitischer Vorfälle im Wohnumfeld Betroffener – von 33 auf 47. Die Mehrheit dieser Ereignisse bildete verletzendes Verhalten (28), allerdings wurden auch je sieben Angriffe und gezielte Sachbeschädigungen sowie fünf Bedrohungen bekannt. Die meisten Attacken richteten sich gegen jüdische und israelische Institutionen.
Der „Ort“, an dem die meisten dokumentierten antisemitischen Vorfälle stattfanden, war das Internet, wo es einen starken Anstieg von 432 im Vorjahr auf 550 gab. Im Offline-Bereich konnte Rias ein etwa gleichbleibendes Niveau beobachten: von 450 Vorfällen auf 454. Längere Lockdown-Phasen und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens führten nicht zu einem Rückgang antisemitischer Vorfälle.
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Der Antisemitismus existiere unabhängig von der Pandemie, stellte der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Samuel Salzborn, am Montag bei der öffentlichen Vorstellung des Berichtes fest. Die Pandemie sei als Vorwand genutzt worden, um Antisemitismus zu artikulieren.
Bei 186 Vorfällen, also fast einem Fünftel der erfassten Fälle, hab es laut Rias einen Bezug zur Pandemie gegeben. Verschwörungsideologische und antisemitische Anfeindungen gelangten aus dem Internet auf die Straße. Bei Demonstrationen wurden mehrfach die Corona-Maßnahmen mit der Judenverfolgung im Nationalsozialismus verglichen, die dadurch relativiert wurde.
Antisemitismus ist auf Coronaleuger-Demos schwer im Kommen
Bei den Demos gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen habe der moderne Antisemitismus an Bedeutung gewonnen, stellten die Rias-Mitarbeiter fest. Immer wieder hätten Demonstrierende Antisemitismus bemüht, um die Pandemie und ihre politisch-ökonomischen Folgen zu „erklären“. So verbreitete beispielsweise im September in Mitte der Organisator einer Kundgebung den antisemitischen Verschwörungsmythos einer „Neuen Weltordnung“ und dass „die Rothschilds“ hinter der Corona-Politik stecken würden.
Bei mehr als der Hälfte der Vorfälle war der politisch-weltanschauliche Hintergrund der Täter unbekannt. Bei 271 Vorfällen gibt es laut Rias einen rechtsextremen beziehungsweise rechtspopulistischen Hintergrund. 89 werden als verschwörungsideologisch eingestuft. Bei 50 Fällen spielt antiisraelischer Aktivismus und bei 22 Islamismus eine Rolle. 14 sind dem linken Spektrum und sieben dem christlichen Fundamentalismus zuzuordnen.
Rias unterscheidet zwischen fünf Erscheinungsformen des Antisemitismus, bei denen mehrfache Einordnungen möglich sind: wenn Juden als fremd oder nicht dazugehörig beschrieben werden (43,4 Prozent der Fälle im vergangenen Jahr), wenn sie religiösen Stereotypen ausgesetzt sind und zum Beispiel für den Tod Jesu verantwortlich gemacht werden (9,9 Prozent), wenn ihnen besondere politische oder ökonomische Macht zugeschrieben wird (34,6 Prozent), wenn der NS-Massenmord an den Juden geleugnet oder relativiert wird (43,4 Prozent) oder wenn dem Staat Israel die Legitimität abgesprochen wird (26,3 Prozent).
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Die Fraktionen von SPD, CDU, Linke, Grünen und FDP im Abgeordnetenhaus verurteilten am Montag die antisemitischen Vorfälle. Auch während der Pandemie sei Antisemitismus für Berliner Juden und Jüdinnen eine allgegenwärtige Bedrohung. „Verschwörungsmythen haben konkrete Auswirkungen auf Betroffene antisemitischer Gewalt und stellen eine abstrakte wie konkrete Gefahr dar“, heißt es unter anderem einer gemeinsamen Erklärung. „Das Gefahrenpotenzial darf nicht unterschätzt werden.“