Trotz Krieg und Krise: Auf Volksfesten in Berlin und Brandenburg wird gefeiert wie eh und je
Unsere Autorin braucht eine neue Brille und hat den Menschen deshalb tief in die Augen geschaut.

Ich brauche eine neue Brille. Die Jahre fordern mehr Schärfe. Die Frage des möglichen Designs bespreche ich mit meiner Tante, einer Optikerin im Ruhestand. Sie sagt, am besten Du schaust Dir erstmal an, was Dir an anderen Leuten gefällt. Zunächst erzähle ich ihr nicht, dass ich gern so ein Modell hätte, wie es unsere Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger auf der Nase trägt. Das verheimliche ich erstmal, weil ich vermute, die Tante würde sofort zu mir sagen, runde Brille und rundes Gesicht, das passt doch nicht.
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Ich muss also unter Leute und mir anschauen, was in der Sehhilfen-Mode so angesagt ist. Wo macht man das besser, als auf den zahlreichen Volksfesten, die derzeit in Berlin und Brandenburg gefeiert werden. Fest an der Panke, Oktoberfest oder Herbstzauber. Da kann man bestens Leute gucken. Und nebenbei vielleicht noch was mitbekommen von der Stimmung der Menschen in diesem goldenen Herbst, der einem Winter vorangeht, über den derzeit vor allem dunkle Szenarien im Umlauf sind. Krieg in Europa, Gaspreise und Inflation, kühle Wohnungen und ungeheizte Büroflure.
Den Leuten auf dem Volksfest in die Augen schauen
Sieht man das in den Augen der Leute? Ich muss ja genau hinschauen, schon wegen der Brillen. Spiegelt sich in den Gesichtern, wovon unsere Politiker und Wirtschaftsvertreter seit Wochen sprechen? Haben die Berliner im Ohr, was Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und die übrige Regierung in Vorbereitung auf den Winter sagen. Interessiert sie der Streit zwischen Bund und Ländern über das Entlastungspaket der Bundesregierung? Glauben Sie noch, dass es eine wie auch immer geartete Verlängerung des 9-Euro-Tickets geben wird? Kennen sie die Minister, die jetzt Entscheidungen treffen?
Was ich erlebe, ist, dass überall so gefeiert wird, als sei alles im Lot wie immer. Thüringer Bratwurst vom Grill, Bier in großen Bechern, hier und dort wird mit Aperol Spritz angestoßen. Sich offensichtlich gut unterhaltende Menschen an langen Biertischen. Sorgen kann ich auf den ersten Blick nicht erkennen.

Über allem Musik vom Band oder von Coverbands. Zu hören ist alles, womit die heile Welt akustisch tapeziert ist: „Atemlos“, „Cordula Grün“ und „Dicht im Flieger“. Die Stimmung erreicht ihren Höhepunkt, wenn Wolfgang Petrys „Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle? Eiskalt lässt du meine Seele erfrier'n“ erklingt. Es wird getanzt oder wenigstens rhythmisch mit den Hüften gewackelt. Ich bin versucht, mitzusingen. Und habe bei all der Ausgelassenheit die Brillen und alles andere schon fast aus den Augen verloren.
Diesen Namen kennt die Tante nicht
Doch eine Sehhilfe muss so oder so her. Deshalb rufe ich Tage später meine Tante wieder an. Und gestehe ihr nun doch, dass ich am liebsten eine Stark-Watzinger-Brille hätte. Die Optiker-Tante antwortet überrascht: „Oh, diese Marke kenne ich gar nicht.“ Ich staune nicht schlecht und würde am liebsten gleich wieder auf ein Volksfest gehen.
Claudia Pietsch schreibt montags im KURIER über Berliner und Brandenburger Befindlichkeiten. Kontakt in die Redaktion: wirvonhier@berlinerverlag.com