Quietschende Straßenbahnen und Zoff um Wartehäuschen

Bei einem Ausflug ins thüringische Gera wurde unsere Autorin mehrfach an Berlin erinnert. 

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Die Fahrt mit dieser historischen Straßenbahn durch das thüringische Gera erinnerte unsere Autorin an eine Kurve in Prenzlauer Berg. 
Die Fahrt mit dieser historischen Straßenbahn durch das thüringische Gera erinnerte unsere Autorin an eine Kurve in Prenzlauer Berg. privat

So schön unsere Stadt sein mag, auch die treuesten Berliner müssen mal verreisen. Kürzlich ging es für uns einige Tage in die thüringische Stadt Gera. Zum dortigen – von einem Zweig unserer weitläufigen Familie organisierten – kurzweiligen Programm gehörte eine Fahrt mit der historischen Straßenbahn.

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Die Tour war sehr nach meinem Geschmack, weil mich die nostalgische Bahn mit ihren Holzbänken an ihre Verwandten, die einst durch Berlin zuckelten, erinnerte. Wenn sie durch die Geraer Kurven quietschte, klang es  genauso wie damals, wenn bei uns in Prenzlauer Berg die alte Straßenbahn der Linie 46  auf dem Weg zum Kupfergraben von der Kastanienallee zur Zionskirche abbog. Es war ohrenbetäubend. An dieser Ecke ein Straßencafe zu eröffnen, das wäre damals unvorstellbar gewesen. 

Eine Straßenbahn der Linie 46 fährt durch Berlin in Richtung Kupfergraben. Diese Bahnen quietschten in den Kurven meist sehr laut. 
Eine Straßenbahn der Linie 46 fährt durch Berlin in Richtung Kupfergraben. Diese Bahnen quietschten in den Kurven meist sehr laut. frontalvision/imago

Noch während ich in der thüringischen Bahn deren originale Ausstattung samt Kasse des Vertrauens mit Münztrommel bewunderte, erfuhr ich, dass Gera im 19. Jahrhundert eine der reichsten Städte Deutschlands war. Die Textilindustrie war es, die Gera diesen Wohlstand brachte.  

Die Kaufhauskette Hertie hat ihren Ursprung in Gera

Oscar Tietz etwa war ein Unternehmer, der dazu beitrug. Aus seiner Ladengründung  im Jahr 1882 entwickelte sich im Laufe der Zeit die Kaufhauskette Hertie. Ein Name, der auch in Berlin noch immer einen guten Klang hat. Unterdessen fuhr uns die Straßenbahn vorbei an  restaurierten Luxusvillen, die noch heute von Geras einstigem Reichtum zeugen. Und gleich darauf ratterte die Bahn an anderen ehemaligen Prachtbauten vorbei, deren Investoren die Millionen ausgegangen sind und an denen nun der Verfall knabbert. 

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In der  Bahn erfuhr ich auch, wie angespannt die Finanzen in Gera heute im Gegensatz zu den Glanzzeiten damals sind. 103 Straßenbahn- und Bushaltestellen will oder muss die Stadt zum Stückpreis von 2500 Euro von einem auch in Berlin bekannten Stadtmöbelunternehmen zurückkaufen. Hintergrund ist ein ausgelaufener Vertrag, wie ich später in der Ostthüringer Zeitung nachgelesen habe. Weitere 26 sollen „zurückgebaut“ werden, also auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Offenbar ist ihr Unterhalt zu teuer, stehen manche von ihnen zu abgelegen oder sind schon zu kaputt. Sollte der Stadtrat das demnächst entscheiden,  werden also in absehbarer Zeit einige Geraer beim Warten im Regen stehen müssen. Windige Aussichten. Aber das kennen wir hier ja auch – Tram-Haltestellen direkt unter dem freien Himmel von Berlin.   

In Gera heißt das Bürgeramt Stadtservice

Ob man mit dem Haltestellen-Zoff die Finanzen der Hauptstadt mit denen der Mittelstadt Gera mit ihren knapp 95.000 Einwohnern vergleichen kann, vermag ich nicht zu sagen. Aber eines habe ich online schon ausprobiert: Sollte ich mich entscheiden, meinen Wohnsitz ins schöne Gera zu verlegen, bekäme ich spätestens zwei Wochen nach dem Umzug einen Termin beim Bürgeramt. Das dort übrigens Stadtservice heißt.  

Claudia Pietsch schreibt jede Woche im KURIER über Berliner und Brandenburger Befindlichkeiten.
Kontakt zur Redaktion: wirvonhier@berlinerverlag.com