Abfüllung von Vita-Cola an der Produktionsanlage. Die Beschäftigten in Thüringen streikten für gleiche Löhne. 
Abfüllung von Vita-Cola an der Produktionsanlage. Die Beschäftigten in Thüringen streikten für gleiche Löhne.  Martin Schutt/dpa

Die erste Aufregung um Dirk Oschmanns Buch „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ hat sich gelegt, der Leipziger Literaturprofessor tourt nun mit Lesungen durch die Republik. In der Pankower Kirche Zu den Vier Evangelisten ist an einem Abend Anfang Mai kaum mehr ein Platz zu ergattern. Ich stehe hinten, man hört schlecht. Deutlich vernehmbar aber ist der gequälte Nerv, den Oschmann bei den Anwesenden mit seinem Buch trifft. Es ist, als würden schwärende Wunden aufgerissen, die nie ganz verheilt waren und seit langem vor sich hin eiterten. Das eigentlich Interessante bei der Lesung waren die Wortmeldungen der Gäste danach. 

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Die Wut der Ostdeutschen 

Mit seiner Wut sei Oschmann nicht allein, versichert ein Zuhörer und erntet Applaus. Eine Frau steht auf und berichtet, dass sie in ihrem Beruf in der ehemaligen Westhälfte Berlins mehr verdiene als im Osten der Stadt.

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34 Jahre nach dem Ende der DDR steht die Mauer noch immer. Kopfschütteln, Murmeln, Beifall. Die Tatsache lässt sich auch in Zahlen ausdrücken: Statistisch gesehen verdienen die Menschen im Osten durchschnittlich 20 Prozent weniger. Das sind 839 Euro brutto im Monat. Einkommensdaten, die das Statistische Bundesamt im Auftrag der Linke-Fraktion ausgewertet hat, belegen: Vollzeit­arbeitnehmer im Westen verdienen durchschnittlich 4218 Euro brutto im Monat, im Osten dagegen sind es nur 3379 Euro.

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Auch Gründe für diesen Skandal werden viele aufgeführt: Der Ostbeauftragte der Linken, Sören Pellmann, sagt, die Lohnangleichung zwischen Ost und West komme nur in Trippelschritten voran. Ein wesentlicher Grund dafür sei die geringere Tarifbindung im Osten. Und nun? Bis die Ampel sich der Sache annimmt, müssen sich ostdeutsche Arbeiter selber regen. 

Sören Pellmann, Ostbeauftragter der Linken. 
Sören Pellmann, Ostbeauftragter der Linken.  Monika Skolimowska/dpa

Dass sich Arbeitnehmer im Osten die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit nicht länger gefallen lassen wollen, zeigte jüngst eine Aktion beim Vita-Cola-Hersteller Thüringer Waldquell. Dort legten Beschäftigte im thüringischen Schmalkalden vier Stunden lang die Arbeit nieder. Ein Warnstreik ließ die Produktion komplett stillstehen. 

Endlich so viel verdienen wie im Westen 

Die Mitarbeiter wollen genauso viel verdienen wie ihre Kollegen im Mutterunternehmen in Bad Vilbel. „34 Jahre nach der Wende verdienten die Beschäftigten in Schmalkalden immer noch weniger als ihre Kollegen in Hessen“, schrieb der MDR.

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Mitarbeiter im Osten müssten im Monat zwei Stunden länger arbeiten, würden aber dafür 195 Euro weniger verdienen. Das sei ungerecht, sagte die Gewerkschaft. Die Kritik falle daher auch harsch aus, weil Vita-Cola sich gut verkaufe. Das Unternehmen verweist aber auf eine unsichere Zukunft im Markt. Die Thüringer Waldquell GmbH gehört zur hessischen Hassia-Gruppe. 

Ich stelle mir den Aufschrei vor, wenn man mit dem gleichen Argument der Marktunsicherheit die Löhne im West-Werk auf Ost-Niveau kürzte. Gerechtigkeit funktioniert immer in beide Richtungen. Dass über drei Jahrzehnte Menschen in denselben Berufen, mit den gleichen Qualifikationen nicht gleich entlohnt werden, lässt sich nicht schlüssig erklären. In Thüringen und Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern müssen sie sich nicht wie Bürger zweiter Klasse fühlen, in dieser Hinsicht sind sie es.  

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Die legitime Wut über die Ungleichbehandlung nehmen die Extremen, links wie rechts, dankbar zum Anlass, um neue Anhänger zu werben. Auch in der Pankower Kirche sitzen die AfD-Leute ganz vorn. Ob sie wohl zugehört haben, als Oschmann erklärte, er habe so schwarz-weiß gemalt, damit man endlich differenzierter hinschaue? 

Mit den Wunden ist es ja so, dass man manchmal drin bohren muss und sie öffnen, damit sie heilen. Nicht wenige haben sich in der Pankower Kirche sicher daran erinnert, wofür sie vor drei Jahrzehnten in anderen Kirchen und auf den Straßen eingestanden sind. Die seitdem erlittene Enttäuschung ist greifbar. Und sie lässt sich doch nur mit selbstbestimmtem Handeln und Mitgestalten überwinden. 

Stefanie Hildebrandt schreibt regelmäßig im KURIER aus den Berliner Kiezen und über den Osten.