KURIER-Gastkolumne

DDR-Volksaufstand vor 70 Jahren: Bitte vergesst den 17. Juni nicht!

Unser Gastautor erinnert an einen der wichtigsten Tage der ostdeutschen Geschichte und wie damit umgegangen wurde und wird.

Teilen
Sowjetische Panzer fuhren am 17. Juni 1953 während des Arbeiteraufstands in der DDR auf dem Leipziger Platz in Ost-Berlin auf. West-Berliner verfolgten an der Sektorengrenze die Vorgänge.
Sowjetische Panzer fuhren am 17. Juni 1953 während des Arbeiteraufstands in der DDR auf dem Leipziger Platz in Ost-Berlin auf. West-Berliner verfolgten an der Sektorengrenze die Vorgänge.akg-images/epd

Vor 70 Jahren, am 17. Juni 1953, erhoben sich an rund 700 Orten in der gesamten DDR mehr als eine Million Menschen, um gegen die SED-Diktatur zu protestieren. Sie wendeten sich gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen, sie forderten eine bessere Versorgung, die Freilassung politischer Gefangener, freie Wahlen und die deutsche Einheit. Sowjetische Panzer und DDR-Sicherheitskräfte schlugen den Volksaufstand blutig nieder. Es gab mindestens 55 Tote, Hunderte Verletzte, mehr als zehntausend Verhaftungen und einige Todesurteile.

Alle KURIER-Kolumnen finden Sie auf unserer Kolumnen-Seite! >>

In der DDR, wo ich aufgewachsen bin, gehörte dies nicht zum Allgemeinwissen. Die von der SED kontrollierten Medien deuteten den Volksaufstand zum „faschistischen Putschversuch“ um. In der Folge wurde der 17. Juni totgeschwiegen. Wer dabei gewesen war, vermied es, davon zu sprechen – aus Angst vor Repressalien. So verschwand der Volksaufstand vom 17. Juni in der DDR aus dem kollektiven Gedächtnis.

Anders in den frühen Jahren der Bundesrepublik: Dort erklärte der Bundestag bereits im Juli 1953 unter dem Eindruck des gescheiterten Volksaufstands den 17. Juni als „Tag der Deutschen Einheit“ zum gesetzlichen Feiertag. Die Charlottenburger Chaussee in West-Berlin wurde schon fünf Tage nach dem Volksaufstand in „Straße des 17. Juni“ umbenannt. Am Gedenkort auf dem Friedhof an der Seestraße in Berlin-Wedding traf sich die Politprominenz alljährlich zur Kranzniederlegung. Doch im Lauf der Jahre erstarrte das Gedenken an den 17. Juni 1953 im Westen zum Ritual. Der Feiertag mitten im Sommer wurde gern mitgenommen und für Ausflüge an den Baggersee genutzt. Die Geschichte dahinter verblasste.

Als wir Jahrzehnte später in der DDR wieder öffentlich protestierten, spielte der Volksaufstand von 1953 für uns keine Rolle. Nach dem Sturz der SED-Diktatur und der deutschen Einheit wurde der 17. Juni zugunsten des 3. Oktober als Feiertag abgeschafft. Das Gedenken an die Opfer wurde von den Erinnerungen an die Friedliche Revolution 1989/90 überstrahlt. Und so geriet der Volksaufstand weiter in Vergessenheit, besonders bei den Jüngeren. Einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge kann nur jeder Siebte im Alter zwischen 14 und 29 Jahren spontan etwas mit dem Datum anfangen.

17. Juni: Jahrestage und rituelles Gedenken allein genügen nicht

Frank Ebert auf der Straße des 17. Juni: Unser Kolumnen-Gastautor ist der Berliner Beauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 
Frank Ebert auf der Straße des 17. Juni: Unser Kolumnen-Gastautor ist der Berliner Beauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Rolf Walter/BAB

Ich bin überzeugt: Jahrestage und rituelles Gedenken allein genügen nicht, um die Erinnerung an den Volksaufstand wachzuhalten. Wir brauchen zeitgemäße Ansätze, um die Menschen zu erreichen. Ein wichtiger Baustein ist dabei für mich das von Bund und Land geplante Forum Opposition und Widerstand. Es wird zeigen, dass die Themen, die uns vor Jahrzehnten in Ostdeutschland bewegten, wie der Kampf um Freiheits- und Menschenrechte, der Schutz der Umwelt, die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, die Sicherung des Friedens sowie – besonders angesichts aktueller Ost-West-Debatten – die deutsche Einheit, auch im vereinten Deutschland weiter aktuell sind. Und dass Freiheit, Menschenrechte und Demokratie nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder verteidigt oder neu erkämpft werden müssen.

Wenn wir es schaffen, Geschichte verständlich zu vermitteln und ihre Bedeutung für die Gegenwart deutlich zu machen, dann wird auch der Volksaufstand von 1953 wieder seinen Platz im kollektiven Gedächtnis finden.

Unser Gastautor Frank Ebert (53) ist seit März 2023 Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Zuvor war er langjähriger Mitarbeiter der Robert-Havemann-Gesellschaft, bei der er zahlreiche Projekte zur deutschen Teilung und zur Friedlichen Revolution 1989/90 leitete. Ebert ist Mitgründer des Archivs der DDR-Opposition. Für sein Engagement wurde er 2015 mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet.