Die unglaubliche Reise von Icke und Dette: DARUM wilderte der Berliner Zoo jetzt zwei Aale aus
In dieser Geschichte geht es nicht nur um Tiere – sondern auch um den Abschied von zwei Berliner Originalen.

Für den KURIER schreibe ich seit Jahren über Tiere, in meiner Tier-Kolumne neuerdings sogar jede Woche – und doch gibt es noch immer Tier-Geschichten, die mich zugleich schmunzelnd und staunend zurücklassen. Zum Beispiel diese hier. Vor wenigen Tagen erreichte mich die Nachricht, dass Mitarbeiter des Zoos Ende Oktober zwei Aale ausgewildert haben. Zwei Aale? Ausgewildert? Das hört sich erstmal recht banal an. Doch das, was dahinter steckt, ist einfach faszinierend – und zugleich die Geschichte eines Abschieds von zwei Berliner Originalen.
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Denn: Die Aale, um die es hier geht, sind keine normalen Aale. Sie heißen „Icke“ und „Dette“ – und lebten stolze 20 Jahren im Aquarium des Berliner Zoo. In ihrem Bassin, eher zurückgezogen, wie es für Aale üblich ist. Und dennoch wurden sie zu den Lieblingen der Pfleger.
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„Ich arbeite seit 31 Jahren im Aquarium – und habe mich davon 20 Jahre auch um Icke und Dette gekümmert“, sagt etwa Marco Hasselmann, Revierleiter des Aquariums. „Es sind zwar nur Fische, würden viele sagen. Aber auch bei Fischen geht es manchmal über das Glitschige hinaus.“
Icke und Dette: Abschied von zwei Berliner Originalen
Die Geschichte von Icke und Dette reicht weit zurück. Als Jungtiere kamen sie zum Aquarium, beide bluteten damals aus dem Mund. Mutmaßlich eine Verletzung durch einen Angelhaken. „Damals dachten wir: Wir probieren mal, ihnen zu helfen“, sagt Hasselmann. „Denn Aale sind faszinierende Tiere, haben ein großes Regenerationsvermögen. Sie können aus allen möglichen Situationen quasi als gesunde Tiere hervorgehen.“

Erst lebten die beiden hinter den Kulissen des Aquariums, zogen dann in ein Schaubecken. „Mit zunehmendem Alter haben sie sich immer mehr rausgetraut“, sagt Hasselmann. „Sie gewöhnten sich sogar daran, das Futter manchmal aus der Hand der Pfleger zu nehmen. Und wurden zu den heimlichen Maskottchen unter unseren Kaltwasserfischen.“ Hasselmann gab ihnen ihre Berliner Namen, die sich später auch offiziell durchsetzten. Sie hätten, sagt er, im Aquarium gelebt wie „zwei alte Latschen“, ein altes Ehepaar.
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Hier hätte die Geschichte enden können, aber: Aale haben eine Mission. Ihr Leben folgt einem festen Zeitplan. Und der ist bei den Fischen sehr geheimnisvoll und noch nicht vollständig erforscht. Laut Hasselmann geht er so: Europäische legen ihre Eier („laichen“) in der Sargassosee unweit des Bermuda-Dreiecks. Aus dem Laich schlüpfen Larven, die dann mehrere Jahre durch den Atlantik bis an die Küsten Europas schwimmen. Dann färben sie sich langsam, werden größer, schwimmen in die Flüsse und suchen sich ihren Lebensmittelpunkt.

Jahrzehnte bleiben sie dort. Aber: Nähert sich ihr Leben dem Ende, brechen sie auf. Zurück durch die Flüsse, zurück zum Atlantik, in die Sargassosee. Eine weite Reise, an dessen Ende sie ihre Eier legen, aus denen später neue Larven schlüpfen – der Kreislauf beginnt von vorn. Sie kommen also zur Welt, brechen dann auf ins Leben, und kehren am Ende zum Ursprung zurück, um neues Leben zu schenken. Ist das nicht faszinierend?
Icke und Dette sollten ihr Leben auf natürliche Weise abschließen
Für die Pfleger im Zoo stand fest: Sie wollten auch Icke und Dette die Möglichkeit geben, zu ihrer großen Reise aufzubrechen. Die beiden Aale, inzwischen jeweils rund einen Meter lang, sollten ihren Lebenszyklus vervollständigen. In Abstimmung mit Institutionen wie Naturschutzbehörden und dem Fischereiamt wurde abgewogen, ob die Aale es schaffen können. Dann wurden die Wasserverhältnisse in ihrem Becken über Wochen Stück für Stück denen in der Havel angepasst.
Drei Pfleger waren dabei, als Icke und Dette am 28. Oktober, nach 20 Jahren im Zoo, in die Freiheit entlassen wurden. „Da hatte ich schon eine Träne im Knopfloch“, sagt Hasselmann. Das Wasser der Havel sei klar gewesen, die Sonne schien – und die beiden Aale schwammen langsam und gemächlich davon, in die tieferen Bereiche des Wassers. Ein Moment voller Glück, aber zugleich auch voller Traurigkeit sei es gewesen. „Man weiß nicht, ob sie wirklich klarkommen“, sagt er. „Aber wir haben ihnen die besten Chancen gegeben.“
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Was bleibt? Die Erinnerung an zwei Berliner Legenden, die nun unterwegs sind auf der Reise ihres Lebens. Auf dem Weg lauern Gefahren: natürliche Feinde, Parasiten, aber auch die Fischerei. Immer weniger Aale gibt es in den Meeren, der Europäische Aal gilt sogar als vom Aussterben bedroht. Dass Icke und Dette auf dem Weg durch den Atlantik sind, ist also auch ein kleines Puzzlestück auf dem Weg zur Arterhaltung. Nur: Werden es die beiden schaffen? Wir werden es nie erfahren.
Florian Thalmann schreibt jeden Mittwoch im KURIER über Tiere.
Kontakt in die Redaktion: wirvonhier@berlinerverlag.com