Wie aus einem Rabauken aus dem Märkischen Viertel ein Macher für Berlin wurde
„Wir haben uns alle das Meckern angewöhnt“, sagt der Unternehmer Michael Lind und zeigt, wie es besser geht.

Die Dezemberausgabe seiner eigenen kleinen Kiez-Zeitung ist sechssprachig. Zumindest der Weihnachtsgruß auf dem Titelblatt. Im Harzer Kiez in Neukölln werden sicher noch viel mehr Sprachen gesprochen, die Geste ist es aber, die zählt. Michael Lind weiß viel über die Menschen, die hier im Viertel leben. Und er weiß, dass es oft die kleinen Dinge sind, die manchmal Großes bewirken.
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Erfinder der Kaffee-Wette in Neukölln
Michael Lind ist in den letzten Wochen mit der Kaffee-Wette in den Zeitungen gewesen. Er ist der Erfinder der wohltätigen Aktion. In Neukölln und in Reinickendorf wettete Lind jeweils gegen den Bürgermeister, der möglichst viele Bürger dazu bringen sollte, Kaffeepäckchen in den Rathäusern abzugeben. Den Kaffee bekommt dann die Kältehilfe und obendrein noch eine Spende von Lind. Im vierten Jahr läuft die Aktion erfolgreich, sie ist längst nicht die einzige, die der Kaufmann und Chef dreier Supermärkte in Berlin auf die Beine stellt.
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Anti-Mobbing-Events, Laptops für eine Flüchtlingsunterkunft, ein jährliches Kiezfest, immer wieder Spendensammlungen für die Schulen und Kitas im Kiez, eine Großspende für die Berliner Tafel – warum macht er das alles? Und warum tun es andere nicht?
Um das herauszufinden, quetschen wir uns in den vollen Terminkalender des Kaufmanns. Michael Lind ist am Telefon schwer zu erreichen, immer unterwegs, immer auf Achse. An einem kalten Februarmorgen gehen wir endlich mit ihm durch die Gänge hinter einer großen Schwingtür im Nahkauf-Markt am Neuköllner Kiehlufer und nehmen im Pausenraum für die Mitarbeiter Platz.
Märkisches Viertel, Problembezirk. Hochhaus, 14. Stock.
Lind erzählt, mit 19 Jahren war er schon Filialleiter eines Supermarktes, seit 2010 ist er sein eigener Chef, führt er den Neuköllner Laden. Später kommen Filialen in Tegel und im Märkischen Viertel dazu. Dort ist der heute 42-Jährige auch selber aufgewachsen. Problembezirk. Hochhaus, 14. Stock. Diese Zeit prägt ihn bis heute.

Da ist etwa der beste Freund, der von Jugendgangs gejagt, die ganze achte Klasse lang nicht zur Schule kommt, da sind die Bauchschmerzen, mit denen Lind selber durch den rauen Kiez geht. Da sind die Opfer und Täter einer Siedlung am Rande, in der viele Menschen mit vielen Problemen auf zu engem Raum leben. Michael Lind ist mal das eine, mal das andere, Opfer und Täter. Dass er in seiner Jugend im Märkischen Viertel und beim Fußballverein Normannia 08 kein Lamm war, daraus macht er kein Geheimnis.
Söhne sollen ohne Schulhof-Schlägereien aufwachsen
Dass Michael Lind es aber geschafft hat, auf dem Weg in Richtung Hoffnungslosigkeit vom vorgezeichneten Pfad abzubiegen, das macht ihn noch heute dankbar. Er hat etwas gut zu machen, so sieht er die Sache. Seine eigenen beiden Jungs sollten ohne Schlägereien aufwachsen. Als der Jüngste geboren wird, ziehen er und seine Frau weg aus dem Märkischen Viertel, ohne sie hätte er das alles sowieso nicht geschafft, sagt er.
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Den Vater des Diebs anrufen, nicht die Polizei
Lind kennt sie also noch von früher, als es noch Tengelmann gab und Bolle und Kaiser's: diese Halbstarken, die im Supermarkt klauen. Doch jetzt in Neukölln steht er ihnen als Ladeninhaber gegenüber. Lind ruft dann nicht die Polizei, sondern die Väter der Delinquenten an. Das funktioniert. „Wenn man sich mit den Kindern und Jugendlichen beschäftigt, dann werden das keine Gauner“, sagt Michael Lind. Immer wieder startet er also Aktionen, die Kindern und Jugendlichen zugute kommen. „Wir haben uns angewöhnt, ständig nur zu meckern“, sagt Lind, das ständige Genöle sei er leid. Gebe es einen verdreckten Spielplatz, gingen einige lieber zwei Wochen demonstrieren, anstatt in wenigen Stunden selber aufzuräumen. Er mache lieber.

Und so lässt Michael Lind an der Supermarktkasse pro Bon einen Cent zurücklegen und spendet am Ende des Jahres das Geld. Lind will zeigen, dass man auch mit kleinen Schritten etwas bewirken kann. Nachdem Rewe seine Idee aufnimmt und bundesweit Cents sammelt, sind es schon 4 Millionen Euro für Kinder. Klein anfangen, Kreise ziehen, andere anstecken, etwas zu tun, das gefällt dem 42-Jährigen.
„Menschen wollen helfen“, sagt er. Man müsse ihnen manchmal nur einen Weg aufzeigen. Wenn er eine Idee hat, ruft er an: beim Bezirksbürgermeister im Amt. Und dann macht er.
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Ein Supermarkt ist ein sozialer Treffpunkt. Doch immer weniger Läden sind familiengeführte Unternehmen. „Einen Konzernchef einer Lebensmittelkette interessiert nicht die Entwicklung im Kiez, sondern nur die Entwicklung der Einnahmen“, so Lind. Bei Aldi gebe es auch keine Marktleiterin mit grauen Haaren, spitzt er zu. „Alle vorher kaputt gearbeitet.“ Was er hingegen tun könne, um seine Mitarbeiter bei der Stange zu halten, sei menschlich sein.
Mitarbeiter vor Abschiebung bewahrt
Der Chef seiner Obst- und Gemüseabteilung etwa, er suchte zwei Jahre lang eine Wohnung. Keine Chance auf dem Markt, schon gar nicht als Schwarzer. Doch Lind lässt ihn nicht hängen, demnächst unterschreibt der junge Mann, den Lind während der Ausbildung vor der Abschiebung bewahrt hat, einen Mietvertrag. Ein Iraker, der ebenfalls abgeschoben werden sollte, ist heute stellvertretender Filialleiter in einer von Linds Filialen.
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Auf bundesweiten Veranstaltungen mit Kollegen rückt ein Unternehmer aus Bayern sinnbildlich schon mal ein Stückchen beiseite, wenn Lind erzählt, dass er einen Supermarkt in Neukölln betreibt. „Der hat dann Angst, dass ich ein Messer dabei habe“, grinst er. Dabei wüssten die in Bayern gar nicht, wie bunt es hier im Kiez sei, wieviel möglich ist, wenn man nur will. „Wir sind alle der Staat“, sagt Lind. Nicht auszudenken, wenn sein Beispiel in all den Spätis und Schicki-Läden der Stadt Schule machte.