Sechs Wochen Quarantäne, weil ich die Schule schwänzen wollte
KURIER-Leser Michael Röber erinnert sich angesichts der Corona-Krise an eine ganz besondere Geschichte.

Erinnerungen sind eine eigenartige Sache – manchmal gibt es Dinge im Leben eines Menschen, die jahrelang in Vergessenheit gerieten, aber plötzlich auftauchen, wie aus dem Nichts. Bei Michael Röber (72) aus Pankow passierte genau das vor einigen Tagen.
Der KURIER-Leser verfolgte die Nachrichten zur Corona-Krise. „Da kam ein Beitrag im Fernsehen, in dem eine Frau ihr Leid klagte, weil sie das mit dem Kontaktverbot nicht verstehen wollte“, sagt er. Plötzlich fiel ihm seine Geschichte ein, ein Stück der Vergangenheit. „Und ich sagte zu meiner Frau: Der Mensch ist mit einem Verdrängungsmechanismus ausgestattet, aber zum Glück kommen Erinnerungen manchmal wieder.“
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Krankentransport vor der Tür
Röber saß selbst einmal in Quarantäne, vor vielen Jahren. Es war 1962, der damals 15-Jährige ging zur Schule – und sollte an einem Montag eine Klassenarbeit in Englisch und Russisch schreiben. Das Problem: Er wollte nicht. „Also ging ich zum Arzt und erzählte, ich sei krank“, sagt er. Als der Doktor fragte, was er denn habe, sagte der junge Michael: Durchfall.
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Die denkbar schlechteste Antwort. Er hatte vergessen, dass gerade die Ruhr-Seuche in die DDR schwappte. Eines der Symptome: Durchfall. Ohne Umschweife sollte es für Röber in die Quarantäne gehen. „Der Arzt wies mich an, im Internat sofort meine Sachen zu packen. Also fuhr ich hin – und ich war kaum da, da stand schon der Krankentransport vor der Tür.“
Sechs Wochen eingeschlossen
Röber wurde in ein Behelfskrankenhaus gebracht, eingerichtet in einer Art Jugendherberge – und erfuhr, dass er nun sechs Wochen in Quarantäne verbringen muss. „Ich sagte den Schwestern natürlich, dass ich gar nichts habe, aber sie glaubten das nicht.“ Er sei in einem Zimmer mit vier älteren Herren untergebracht gewesen. „Wir hatten keinen Balkon, auf dem Flur einen Waschraum ohne Dusche, eine einfache Toilette. Schlafen mussten wir auf Feldbetten“, sagt er. Schmunzelnd erinnert er sich an das auch mangelhaft vorhandene, aufgeraute Klopapier. „Und das Essen war bescheiden– es gab Möhrensuppe, saure Eier und natürlich Kohle gegen den Durchfall, den ich nicht hatte.“
Eingeschlossen für sechs Wochen – was macht man in dieser Zeit? „Ich habe viel gerätselt, mir von den älteren Menschen ihre Kriegsgeschichten erzählen lassen. Und wir spielten Doppelkopf.“ Für den 15-Jährigen war die Quarantäne natürlich dennoch eine Herausforderung. „Denn ich spielte damals Trompete im Orchester und Fußball – das konnte ich beides nicht. Das hat mir gefehlt.“
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Tiefe Dankbarkeit
Röber erzählt seine Geschichte heute vor allem aus einem Grund: Er möchte zu mehr Dankbarkeit aufrufen. „Viele
sind unzufrieden mit der Situation, die wir in der Corona-Krise erlebt haben, dabei können wir für all die Dinge glücklich sein, die wir im Vergleich zu früher haben“, sagt er. „Die Versorgung ist heute wesentlich besser. Es gibt die moderne Technik – wir hatten damals keine Handys, keine Tablets, kein Fernsehen, kein Netflix.“
Wenn er selbst sich heute erinnert, spüre er eine tiefe Dankbarkeit für vieles. „Ich kann heute meinen Sohn anrufen und sehe ihn sogar, auch wenn er gar nicht hier ist. Ich kann den ganzen Tag im Fernsehen anschauen, was ich möchte. Das ist doch toll!“ Röber ist sicher: Wir alle werden die Krise überstehen, gut aus der ganzen Sache herauskommen.
Brückenbauer sein
„Und ich denke und hoffe, dass viele von uns dadurch ein Stück zurückgeholt werden. Dass wir alle wieder mit Demut schätzen, wenn wir zusammen sind. Dass wir sehen, was es bedeutet, jederzeit alles einkaufen zu können.“ Dankbar müsse man auch jenen sein, die in den Kliniken arbeiten –Röber ist an Krebs erkrankt, wird darauf behandelt.
Seinen eigenen Enkelkindern habe er sein Gefühl der Dankbarkeit vermitteln können. „Mit meiner Enkelin skypte ich am gleichen Abend, nachdem mir die Geschichte wieder eingefallen war“, sagt er. „Sie klagte, mein Enkelsohn beschwerte sich, dass er nicht mit seinem Kumpel weggehen kann. Als ich ihnen meine Geschichte erzählt hatte, sagten sie: Mensch, Opa, da haben wir es ja hier noch gut.“ Michael Röber gefällt das – denn für ihn sei wichtig, dass die jüngeren Menschen von den älteren etwas lernen. „Ich möchte, indem ich meine Geschichte erzähle, gern ein Brückenbauer sein.“