Die Stelle an der „Kaisereiche“ in Friedenau, an der die Mitarbeiter für Piotr Kerzen anzündeten und Rosen vorbeibrachten.
Die Stelle an der „Kaisereiche“ in Friedenau, an der die Mitarbeiter für Piotr Kerzen anzündeten und Rosen vorbeibrachten. Foto: Kerstin Hense

Sie haben Kerzen angezündet und eine Vase mit Rosen aufgestellt. Seit drei Jahren war dieser Bürgersteig an einem türkischen Imbiss an der Rheinstraße in Friedenau zu einem vertrauten Ort für Piotr geworden. Hier lebte der Obdachlose aus Polen auf der Straße, weil er kein Zuhause mehr hatte. Vor drei Tagen starb er an Organversagen.

Piotr war gerade erst 43 Jahre alt. Die Mitarbeiter der Obdachlosenunterkunft Nachtcafé Zum Guten Hirten, wo Piotr seine Nächte verbrachte, haben diesen Platz zu einer Art Mahnmal geschmückt. Um an ihn zu gedenken, aber auch um auf sein Schicksal und das vieler anderer obdachloser Menschen in Berlin aufmerksam zu machen.

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„Wie schrecklich. Hier steht, dass er hier sogar einmal überfallen wurde“, sagt ein älterer Herr mit kurzen weißen Haaren während er sich das rote Plakat durchliest, das Piotrs Leben beschreibt. Inzwischen hat sich auf dem Bürgersteig im beschaulichen Friedenau an diesem sonnigen Nachmittag eine kleine Menschentraube gebildet. Ein paar Spaziergänger bleiben interessiert stehen. Bis Ende Oktober lag Piotr hier noch in seinem Schlafsack.

Das Plakat beschreibt das Leben von Piotr auf der Straße.
Das Plakat beschreibt das Leben von Piotr auf der Straße. Foto: Kerstin Hense

„Er war ein sehr netter und umgänglicher Mensch“, sagt Herbert Spindler. Nur wenn er stark alkoholisiert gewesen sei, habe der Alkohol ihn zu einer anderen Person gemacht. Der 72-jährige pensionierte Senatsmitarbeiter aus Friedenau engagiert sich ehrenamtlich als Leiter in der Obdachloseneinrichtung am Friedrich-Wilhelm-Platz, wo Piotr drei Winter seines Lebens verbrachte. Er bekam dort abends eine warme Mahlzeit und ein Bett für die Nacht angeboten. Nach dem Frühstück verschwand er wieder an seinen Platz an der „Kaisereiche“.

Er beobachte, wie die Menschen an der Haltestelle in den Bus ein- und wieder ausstiegen, sich mittags im Imbiss einen Döner kauften oder gehetzt an ihm vorbeiliefen. Mitunter blieb auch jemand stehen. So wie die Mitarbeiter der Herberge Zum Guten Hirten. Sie holten Piotr vor drei Jahren mitten in der Nacht von der Straße und blieben bis zu seinem Tod an seiner Seite. Auch im Sommer standen sie ihm bei, als er nach Aussagen von Spindler mitten auf der Straße von einem Passanten mit einem Messer angegriffen wurde und in eine Klinik musste.

Ein Foto von Piotr, als es ihm noch besser ging.
Foto: Nachtcafé Zum Guten Hirten
Ein Foto von Piotr, als es ihm noch besser ging.

Ende Oktober kam Piotrs erneut als Notfall ins Krankenhaus. „Er war zuletzt so schwach, dass er es noch nicht mal mehr zu Fuß in unsere Unterkunft schaffte und wir ihm sein Essen und eine Wärmflasche bringen mussten“, sagt Herbert Spindler. Piotr starb am 21. November. „Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun, seine Nieren und seine Lunge waren kaputt“, erklärt Herbert Spindler. Das Leben auf der Straße habe Piotr sehr zugesetzt, zuletzt sei auch seine Alkoholsucht schuld daran gewesen. Er habe Kummer gehabt, weil er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie hatte. „Er kam für einen Job als Hilfsarbeiter nach Berlin“, so weiß der Einrichtungsleiter.

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Als das Jobangebot auslief, sei er auf der Straße gelandet. Schätzungen zufolge teilen zwischen 2000 bis 20.000 Menschen Piotrs Schicksal. Zuletzt wurden bei einer Zählung Ende Januar 1976 obdachlose Menschen in der 3,7-Millionen-Metropole erfasst. Allerdings ist dies keine genaue Zahl, da die Zählenden damals  nur an öffentlich zugängliche Orte gehen sollten und sich viele Menschen auf der Straße auch verstecken. 60 Prozent der Menschen ohne Wohnung stammten nach Angaben von Berlins Armutsbeauftragen Thomas de Vachroi vom Diakonischen Werk Simeon aus osteuropäischen Staaten und fielen durch das soziale Netz, da sie keinen Anspruch auf Hartz IV hätten.

Beerdigung durch Spenden finanziert

Piotr soll nicht anonym beigesetzt werden, sondern eine würdevolle Bestattung bekommen. „Es war unser letztes Versprechen an ihn, bevor er starb“, sagt Herbert Spindler. Es soll eine katholische Beisetzung nach seinem Glauben sein, obwohl die Einrichtung der evangelischen Kirche angehört. Für Piotrs Kumpel Riga, der kurz vor ihm starb, hatten sie eine Beerdigung organisiert, die in vier verschiedene Sprachen übersetzt wurde.

Am Sonntag zündeten die Besucher der Gemeinde Zum Guten Hirten für Piotr eine Kerze an und beteten für ihn. Es seien auch obdachlose Menschen im Gottesdienst gewesen, so sagt Spindler. Er sei sehr froh und dankbar, dass sich die Mitarbeiter der Charité bis zum Schluss um ihn kümmerten. „Sie sorgten sehr gut für ihn und ließen uns trotz des eingeschränkten Besuchsrechts immer zu Piotr.“

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Da seine Beerdigung von Spenden finanziert wird, ist das Nachtcafé (www.zum-guten-hirten-friedenau.de) dankbar über weitere Unterstützer. Auch die pandemiebedingt geschlossene Tee- und Wärmestube in Neukölln des Diakoniewerks Simeon (www.diakoniewerk-simeon.de), die seit Monaten mit ehrenamtlichen Mitarbeitern in der Corona-Krise Lunchpakete mit warmen und kalten Mahlzeiten für obdachlose Menschen verteilt, benötigt dringend finanzielle Hilfe, um die Versorgung aufrechterhalten zu können.

„Die Obdachlosen in dieser Stadt möchten wahrgenommen werden. Es wäre schlimm, wenn wir einfach wegsehen, statt einfach mal auf sie zuzugehen und sie zu fragen, ob sie etwas benötigen“, sagt Herbert Spindler. Piotr kann nur noch der letzte Wunsch erfüllt werden, vielen anderen Menschen auf der Straße dagegen kann noch geholfen werden.

Während der Pandemie ist die Not der Obdachlosen noch größer geworden, weil viele soziale Einrichtungen geschlossen haben, aber auch weil immer mehr Menschen existenzielle Probleme bekommen. „Wir beobachten eine vermehrte Anzahl von Menschen auf der Straße, die ihre Wohnung aufgrund von Verlust des Arbeitsplatzes, aber auch durch eine Trennung vom Partner, verloren haben“, erklärt der Armutsbeauftragte Thomas de Vachroi. Die Versorgung werde zunehmend schwieriger. „Da muss der Staat dringend helfen und vor allem die Einrichtungen, die noch geöffnet haben, finanziell unterstützen“, so de Vachroi. Er schlägt vor, einen nationalen Rat in der Landesregierung zu gründen, der sich federführend um diese Menschen kümmert.