Nach dem 2:2 gegen Werder Bremen schwörten die Fans in der Ostkurve die Herthaner auf das Derby gegen den 1. FC Union ein.
Nach dem 2:2 gegen Werder Bremen schwörten die Fans in der Ostkurve die Herthaner auf das Derby gegen den 1. FC Union ein. Foto: imago images/Andreas Gora

Wird das seit Wochen ausverkaufte Derby zwischen Hertha und Union als Geisterspiel in die Historie eingehen? Werden die erwarteten 75.000 Fans beider Lager ihre Tickets erstattet bekommen und am heimischen Fernseher ihre Emotionen ausleben müssen? Das Coronavirus könnte zu diesem Szenario führen. Dabei haben die härtesten Hertha-Anhänger schon am Sonnabend mobil gemacht für das Stadtderby am 21. März und die Mannschaft heftig in die Pflicht genommen.

Und das ging so: Gut fünf Minuten nach Abpfiff des Duells gegen Werder Bremen wurde es plötzlich noch einmal laut in der Ostkurve des Olympiastadions. Die Fans hatten sich in Scharen versammelt, die Profis standen andächtig und beinahe brav vor ihren treuesten Anhängern. Nur einige Wortfetzen waren zu hören: Union, Derby, Kampf ... Ich habe mich in der Fanszene umgehört, was dort passiert war. „Gut fünf Minuten haben wir eindringlich auf die Profis eingeredet und sie heiß gemacht auf das Derby gegen Union“, sagte mir Klaus Kuhfeld, fanatischer Hertha-Fan und Wirt der Kneipe „Zum Kugelblitz“ aus dem Wedding. „Das ist für uns das Spiel der Spiele. Das haben wir allen klargemacht. Die Hauptsache ist, dass wir Stadtmeister werden und am Ende vor Union in der Tabelle landen.“

Einige Profis mit Schwiegersohn-Mentalität

Bei ihrem Appell an die Spieler ahnten Kuhfeld & Co. noch nicht, dass das Derby im Notfall vielleicht vor leeren Rängen stattfinden muss. Ich frage mich aber: Baut die teils martialische Ansprache der Fan-Anführer nicht zu viel Druck auf? Bei Hertha gibt es einige Profis mit „Schwiegersohn-Mentalität“, die viel sensibler sind als etwa einstige rustikale Hertha-Größen wie Axel Kruse, Jolly Sverrisson oder Pal Dardai. Solche Typen sucht man im Moment vergebens.

Ich selbst sehe das mit dem Tabellenstand vor oder hinter Union nicht so verbissen und wäre froh, wenn Hertha und Union den Klassenerhalt schaffen. Mir gefällt die Einschätzung von Union-Coach Urs Fischer, der einmal sagte: „Es nützt uns nichts, wenn wir am Ende vor Hertha stehen, aber beide Vereine absteigen. Dann wären wir Stadtmeister und müssten runter. Damit kann ich nichts anfangen.“ Das gilt im umgekehrten Fall ganz genauso. Doch die hartgesottenen Fans kennen keine Gnade gegenüber dem Rivalen. Helmut Friberg, der über 700 Auswärtsspiele seiner Hertha besuchte, drückt es so aus: „Wenn wir gegen Köpenick verlieren, kriege ich die Krise. Wir müssen vor denen landen.“

Stadtmeister ist der einzig noch mögliche Titel für Hertha

 Dieses Vorhaben ist nicht einfach. Seit dem 1:0 für Union im ersten Derby Anfang November 2019 kann sich der Aufsteiger als „Stadtmeister“ fühlen. Nur bis zum 10. Spieltag lag Hertha in der Tabelle meist vor Union, danach gar nicht mehr. Der damalige Hertha-Trainer Ante Covic sagte unpassend auf der Pressekonferenz nach der Derby-Pleite: „Schaut mal kurz auf die Tabelle. Wir sind immer noch vor Union.“ Einen Spieltag danach war das Makulatur. Knut Beyer, Mitautor des Buches „111 Gründe, Hertha BSC zu lieben“, sagte mir nun: „Der Derby-Sieg ist das Wichtigste überhaupt. Wir müssen höher als 1:0 gewinnen, dann sind wir Stadtmeister, den einzigen Titel, den wir noch holen können.“

Ganz stimmt das nicht, denn Hertha hat schon einen Titel erobert und kann sich nach der Investition von 77 Millionen Euro an Ablösesummen für vier neue Profis im Januar guten Gewissens „Welt-Winter-Transfer-Meister“ nennen. Die große Frage aber ist: Wird der „Stadtmeister“ statt vor 75.000 Zuschauern nun vor leeren Rängen ermittelt? Das wäre ein Albtraum für die Fans und die Klubs, aber höhere Gewalt. Und das erste Geisterspiel in der Liga-Geschichte für Hertha überhaupt.