Mittelfeldmann Lucas Tousart kann es nicht fassen: Immer wieder verspielt Hertha BSC in der Schlussphase wichtige Punkte.
Mittelfeldmann Lucas Tousart kann es nicht fassen: Immer wieder verspielt Hertha BSC in der Schlussphase wichtige Punkte. IMAGO/Jan Huebner

Warum liegen Hertha-Profis häufig nach dem Abpfiff reglos auf dem Platz, schnappen nach Luft und fluchen laut vor sich hin? Warum trommeln Berliner Torhüter immer wieder – wie zuletzt beim Dänen Oliver Christensen erlebt – vor Wut mit beiden Fäusten auf den Rasen?

Die Antwort ist einfach: Weil wieder einmal in letzter Sekunde ein bis dahin hart erarbeiteter Sieg vergeben wurde! Weil man sich erneut nicht mit drei Punkten für eine engagierte Leistung belohnt hat. Weil ein Spiel nicht mehr nur 90 Minuten dauert, wie einst Trainer-Legende Sepp Herberger behauptete.

Fehlt Hertha BSC das Sieger-Gen? 

Sichtlich angefressen: Hertha-Keeper Oliver Christensen nach dem späten Gegentor beim 1:1 in Mainz. 
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Sichtlich angefressen: Hertha-Keeper Oliver Christensen nach dem späten Gegentor beim 1:1 in Mainz. 

Immer wenn ein Spiel „Spitz auf Knopf“ steht oder Hertha kurz vor dem Schlusspfiff knapp in Führung liegt, bekommt man als Anhänger das große Flattern. Zu oft hat sich Hertha BSC – egal unter welchem Trainer – in den letzten Spielminuten wertvolle Punkte klauen lassen. Zuletzt beim 1:1 in Mainz. Irgendwie ziehen sich die sehr späten Punktverluste durch die jüngsten und auch weit zurückliegenden Auftritte unterschiedlicher Hertha-Mannschaften. In der laufenden Spielzeit betrifft das ein 2:2 gegen Leverkusen und das jüngste Remis in Mainz. Stellt sich die Frage: Fehlt Hertha das Sieger-Gen?

Ganz schlimm entwickelte sich ein Last-Minute-Trauma in der Spielzeit 2021/22. Ich habe noch einmal die Statistiken gewälzt. Gegentreffer zwischen der 80. und 90. Minute kassierte die Truppe sage und schreibe elfmal! Dazu kommen drei Tore, die sich die Blau-Weißen jeweils in der Nachspielzeit einfingen. Nicht immer waren es spielentscheidende Treffer, oft lag die Mannschaft schon aussichtslos in Rückstand, aber einige Tore führten zu einschneidenden Punktverlusten.

Last-Minute-Trauma kostete Pal Dardai den Hertha-Job

So fiel das 1:2 gegen den VfL Wolfsburg am zweiten Spieltag in der 88. Minute, der Fehlstart in die Saison nahm seinen Lauf. Am 13. Spieltag schaffte Michael Gregoritsch in der 97. Minute der ellenlangen Nachspielzeit das folgenschwere 1:1 für den FC Augsburg im Olympiastadion. „Es war die erste Nacht, in der ich um 3.00 Uhr aufgewacht bin und mir die Szene sofort noch mal angeschaut habe“, sagte Cheftrainer Pal Dardai, eigentlich bekannt für guten Nachtschlaf, danach. Es hat ihm nichts genützt, die Klub-Ikone wurde entlassen.

Unter dem späteren Retter Felix Magath vergab die Mannschaft an den Spieltagen 32, 33 und 34 gleich drei Matchbälle in den Schlussminuten, um dem drohenden Abstieg und der Relegation zu entgehen.

Mentalcoach: Hertha BSC verkrampft vor Angst

Ist es mangelnde Aufmerksamkeit angesichts eines nahen Erfolges, die zu solch einer Häufung später Gegentore führt? Verlässt man sich zu sehr auf den Mitspieler? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht. „Es ist die Angst vor dem Gewinnen, die lähmt die Konzentration“, sagte mir Dr. Gerd Driehorst, 1998 der erste Mentalcoach bei Hertha und in der gesamten Bundesliga. Heute coacht Driehorst Führungskräfte in Politik und Wirtschaft. „Man muss trainieren, über mehr als 90 oder 95 Minuten hellwach zu sein. Ein 100-Meter-Läufer denkt auch 120 Meter“, so der Mentalcoach. Er glaubt, dass Profis, die zuletzt wie bei Hertha viele Rückschläge im letzten Moment einstecken mussten, plötzlich denken: Wird es denn dieses Mal gut gehen? Sie verkrampfen dabei.

Kurios: Spielentscheidende späte Gegentreffer gab es bei wichtigen Duellen in der Vereinsgesichte schon häufig, etwa in der Champions League,  im ersten Derby gegen Union in der Ersten Bundesliga oder im nationalen Pokal. Ein prominentes Beispiel zu guter Letzt: Beim DFB-Pokalfinale zwischen Hertha und Fortuna Düsseldorf im Juni 1979 unterlief Berlins Abwehrchef Uwe Kliemann, genannt der „Funkturm“, in der 116. Minute der Verlängerung ein folgenschwerer Rückpass, der zur späten, für Hertha tragischen 0:1-Niederlage führte – ein Albtraum für den Abwehrriesen. Der Sünder sagte damals: „Ich konnte mich ja nicht erschießen. Eigentlich wollte ich ins Kloster gehen, aber ich habe es mir anders überlegt.“ Gott sei Dank!

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