Der Jongleur der Zahlen

Finanzchef Ingo Schiller flossen die Millionen von Hertha BSC durch die Bücher

Der KURIER hat eine Rangliste des Versagens erstellt. Platz 1: Ingo Schiller.

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Geschäftsführer Ingo Schiller hält eine Rede auf Herthas Mitgliederversammlung am 19. Mai 2019, spricht über die Stadionpläne des Vereins.
Geschäftsführer Ingo Schiller hält eine Rede auf Herthas Mitgliederversammlung am 19. Mai 2019, spricht über die Stadionpläne des Vereins.City-Press

Der Niedergang von Hertha BSC deutete sich über vier Jahre an und endete mit dem Abstieg in die Zweite Bundesliga. Er ist die Folge eines kollektiven Versagens. Dennoch gibt es Protagonisten des Absturzes und Ereignisse, die den tiefen Fall beschleunigten. Die Väter des Absturzes – der KURIER hat die Rangliste des Versagens erstellt. Platz 1: Ingo Schiller.

Am 29. Mai 2022 trat Herthas langjähriger Finanzchef Ingo Schiller auf der Mitgliederversammlung zum letzten Mal ans Mikrofon, um die wirtschaftliche Lage zu erläutern. Wie immer – im ruhigen Ton und traditionell anschaulich mit bunten Diagrammen. Wenige Tage zuvor hatte die Mannschaft in der Relegation gegen den Hamburger SV im letzten Moment die Klasse gehalten, danach war Präsident Werner Gegenbauer nach 14 Jahren im Amt zurückgetreten, und auch der nahende Abschied von Ingo Schiller – geplant für den Oktober 2022 – war bereits publik geworden. „Das war mein letzter Bericht auf einer ordentlichen Mitgliederversammlung, es waren insgesamt 50“, sagte Schiller, „es war mir eine Herzensangelegenheit.“

Schiller bekam tosenden Beifall, viele Mitglieder erhoben sich von ihren Plätzen – eben stehende Ovationen. Es war die Anerkennung dafür, dass Schiller als „Herr der Zahlen“ den Verein mit hohem Einsatz und Kreativität sehr viele Jahre durch meist wirtschaftlich turbulente Zeiten geführt hatte. Oft auch mit sehr viel Risiko.

Präsident Kay Bernstein bedankte sich bei Ingo Schiller, aber ...

Am 3. Oktober 2022 wurde Schiller im Olympiastadion verabschiedet. Präsident Kay Bernstein sagte: „Ein Vierteljahrhundert Leidenschaft, ein Vierteljahrhundert Aufopferung in einer großen Verantwortung – für diese lange Zeit können wir alle nur Danke sagen.“

Ein paar Monate später, es ist der 14. Mai 2023, aber sagte Bernstein auf der Mitgliederversammlung: „Was ist in den letzten vier Jahren passiert? Es wurden 250 Millionen Euro verbrannt, die sind weg. Wir haben Ingo Schiller im Vorjahr mit Applaus und Standing Ovations verabschiedet. Aber die finanzielle Verantwortung dafür, wo wir heute stehen, lag bei ihm. So ehrlich müssen wir sein.“

Der Unterschied zwischen gefeiertem Finanzchef und heftiger Kritik samt Schuldzuweisung mutet krass an. Fakt ist, dass Ingo Schiller, der 1998 zu Hertha kam, zuerst im kaufmännischen Bereich und ab 2001 als Geschäftsführer Finanzen agierte, beinahe permanent unter starkem wirtschaftlichen Druck arbeiten musste. Hertha wollte sportlich immer schnell hoch hinaus, benötigte dafür Millionen. Da diese nicht vorhanden waren, besorgte man sich das Geld häufig durch Signing Fee, also als Vorauszahlung. Man lebte oft auf Pump und in der Hoffnung auf sportlichen Erfolg.

Champions League füllte nur einmal die Kassen von Hertha BSC

Nur einmal konnte sich Schiller über besser gefüllte Kassen freuen: 1999/2000 begeisterte die Mannschaft in der Champions League. Der Gewinn wurde von Manager Dieter Hoeneß mit rund 40 Millionen Mark brutto angegeben. Allerdings bestand damals noch ein Vertrag mit Vermarkter Ufa-Sports (heute Sportfive), der sämtliche Erlöse aus der Vermarktung im Verhältnis 60 (Hertha) zu 40 (Ufa) aufteilte. Danach kamen Ereignisse hinzu, die negative Auswirkungen auf die Finanzlage der Hertha besaßen, etwa die Kirch-Krise und der aufwendige Umbau des Olympiastadions.

Schiller, das anerkannte jeder im Verein, musste bei der Lizensierung ständig Schwerstarbeit leisten und hohe Kreativität zeigen. Ein Mitglied des aktuellen Aufsichtsrates sagte nun: „Schiller hat meist einen guten Job gemacht. Sein Wort hatte auch bei den Banken Gewicht.“

Der wirtschaftliche Druck stieg weiter an, weil zweimal im letzten Moment der Einzug in die Champions League verpasst wurde, einmal unter Trainer Falko Götz 2004/05 (Platz 4) und später unter Lucien Favre 2008/09 (Platz 4) – mit den Millionen aus der Königsklasse hätte Hertha die Finanzen ordnen und sich sanieren können. So aber kam es sportlich noch schlimmer mit den beiden Abstiegen 2010 und 2012. Vor allem der zweite Abstieg brachte den Verein wirtschaftlich in eine äußerst bedrohliche Lage.

US-Investor KKR sorgte mit 61 Millionen Euro für Entlastung

2014 sorgte der Einstieg des US-amerikanischen Investors KKR (Kohlberg, Kravis, Roberts & Co.) für Entlastung. Das Investment betrug 61 Millionen Euro. Mit den frischen Mitteln bereinigte Schiller Altlasten, die sich nach den beiden Abstiegen aufgetürmt hatten. Der Finanzchef sprach von einer „guten Partnerschaft“.

Ingo Schiller war es auch, der 2019 den Kontakt zu Lars Windhorst herstellte. Fluch oder Segen? Hat Schiller später – bei den heftigen Aktivitäten auf dem Transfermarkt im Januar 2020 – dem Duo Michael Preetz/Jürgen Klinsmann zu wenig Paroli geboten aus finanzieller Sicht? Hätte er energischer einschreiten müssen? Das ist nur schwer zu beurteilen. Zwei Monate später schlug die Corona-Krise plötzlich zu, die niemand voraussehen konnte. Und: Herthas Führung hatte die Zusage von Windhorst auf weitere 150 Millionen Euro und wähnte sich wohl auf der sicheren Seite.

Schiller erklärt den Verbleib der Windhorst-Millionen an Hertha BSC

Was die Klubchefs nicht eingeplant hatten, war die Tatsache, dass die Mannschaft vier Jahre gegen den Abstieg kämpfen würde, was eine Negativspirale in Gang setzte. Vor allem das Abrutschen in der TV-Rangliste sorgte für Millionenverluste. Dennoch bleibt die Frage, wo die 374 Millionen Euro durch Investor Windhorst geblieben sind? Schiller und Gegenbauer beantworteten die Frage immer so: über 100 Millionen als Verlustausgleich in der Pandemie, 100 Millionen für die Rückzahlung von Schulden, der Rest für Spielertransfers und andere Investitionen in die Infrastruktur.

Trotz Sparzwang stiegen die Kosten weiter an, was die gesamte Führung zu verantworten hatte. Vor allem unter Fredi Bobic entwickelten sich die Personalkosten in ungeahnte Höhen. Viele Profis strichen üppige Gehälter ein, die meisten besaßen zudem langwierige Verträge. Insider sagen, Schiller hätte vor den Kostenexplosionen gewarnt, seine Stimme sei aber nicht mehr gehört worden.

Eine aktuelle Recherche von RBB24 wirft neue Fragen auf. So soll das Duo Gegenbauer/Schiller kurz vor ihren Abschieden im Mai 2022 dem Hertha-Beirat – einem mächtigen Gremium – einen Finanzierungsplan präsentiert haben, wie man mit frischen Krediten und Verlängerungen von Partnerschaften die Saison 2022/23 absichern und großen Lizenzproblemen aus dem Weg gehen kann. Diese Pläne aber wurden – so die RBB-Recherche – offenbar von der neuen Klubführung nicht weiter verfolgt. Hertha bestreitet das gegenüber dem RBB. Man hätte keine entsprechenden Finanzierungspläne vorliegen gehabt.

Und Ingo Schiller? Erst gefeiert und später harsch kritisiert? Wie viel Mitverantwortung er für die kritische wirtschaftliche Lage trägt, können nur diejenigen wirklich seriös beurteilen, die mit dem „Herr der Zahlen“ lange zusammengearbeitet haben.

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