Das blau-weiße Jahr: Ein Weltrekord und wenig Mehrwert
Jürgen Klinsmanns ungewöhnliche Amtszeit wird noch lange in Erinnerung bleiben, sportlich hinkt Hertha einmal mehr den Erwartungen hinterher.

Hertha und das Jahr 2020! Wo anfangen und wo aufhören? „Was bei Hertha passierte, war auf jeden Fall filmreif!“ Das sagte mir Kult-Regisseur Volker Schlöndorff, ein Oscarpreisträger, der seit über 20 Jahren Hertha-Mitglied ist. Tatsächlich war es oft großes Kino, was sich abspielte bei einem Verein, der lange als graue Maus galt. Oft war ich hin- und hergerissen von der Wucht der Ereignisse.
Ante Covic, den ich einst 1997 als „stürmenden Teenie-Star“ der Hertha beschrieben hatte, muss als Cheftrainer im Oktober 2019 wegen Erfolglosigkeit gehen.
Klinsmann geht durch die Hintertür
Jürgen Klinsmann, Weltmeister von 1990, übernimmt und steckt viele mit seinem Optimismus und Tatendrang an – auch mich. Endlich ist Euphorie zu spüren. Klinsmann verkündet mit Investor Lars Windhorst im Rücken sofort XXL-Ziele. Die Champions League sollte es bald sein – was sonst! Klinsmann stabilisiert das verunsicherte Team, fordert schnell mehr Kompetenzen und auch mehr Geld. Den Machtkampf mit Präsident Werner Gegenbauer und Manager Michael Preetz verliert er.
Aber vor seinem Abgang durch die Hintertür sorgt er zusammen mit Preetz wenigstens schon für einen großen Titel: Wintertransfer-Weltmeister! Für 77 Millionen Euro verpflichtet Hertha vier Profis: Lucas Tousart, Krzysztof Piatek, Matheus Cunha und Santiago Ascacibar. Weltrekord! Klinsmann aber flieht im Februar feige aus Berlin und verkündet via Facebook seinen Abgang. Eigentlich stilgerecht, weil Hertha die digitale Transformation vehement vorantreibt. Ende Februar aber gelangt Klinsmanns geheimes Tagebuch (22 DIN-A4-Seiten) an die Öffentlichkeit, in dem er die Vereinsführung angreift und jeden Profi süffisant nach dem Motto: „Hat Mehrwert, hat keinen Mehrwert mehr!“ beurteilt.
Sein Assistent Alexander Nouri übernimmt dann. Dessen vorgestanzte Statements langweilen nicht nur mich. Ostern wird er durch Bruno Labbadia ersetzt.
Harter Gegner: das Corona-Virus
Trainer Nummer vier bekommt zusätzlich das Corona-Virus zum hartnäckigen Gegner. Immerhin coacht er Hertha im historischen ersten Geisterspiel der Vereinsgeschichte sehr erfolgreich. Am 18. Mai 2020, nach einer mehrwöchigen Zwangspause der Liga, siegt Hertha mit 3:0 bei der TSG Hoffenheim. Kurz zuvor aber bringt Stürmer Salomon Kalou den Re-Start der Liga in Gefahr, als er via Facebook live Szenen aus der Kabine streamt, in denen er auf die Hygieneregeln pfeift. Seine Suspendierung ist die Folge. Labbadia aber spielt sich in die Herzen der Fans, weil er im Stadtderby den 1. FC Union mit 4:0 bezwingt. Die Saison endet versöhnlich auf Platz 10.
Labbadia und Preetz aber müssen in der laufenden Spielzeit erkennen, dass die Formel „Geld schießt Tore“ bei Hertha noch nicht gegriffen hat. 374 (in Worten: dreihundertundvierundsiebzig) Millionen Euro werden es bis Ende der Saison 2020/21 sein, die Windhorst investiert hat. Platz 14 mit 13 Punkten bis zum Jahreswechsel bedeutet eine äußerst schwache Bilanz. Was mich ärgert: Es ist alles wie immer gewesen, auf einen Lichtblick folgte die nächste Enttäuschung. Typisch Hertha. Daran konnte auch der akribische Labbadia, der mit vielen Widrigkeiten klarkommen muss, noch nichts ändern.
Was bleibt noch aus 2020? Klinsmann prägte in der Liga zum ersten Mal den coolen Begriff des „Performance Managers“, den er aus dem US-Sport kannte und verpasste diesen Arne Friedrich. Der ist immerhin inzwischen zum Sportdirektor befördert worden. Und Bruno Labbadia gab in seinem eleganten beigen Kurzmantel zuletzt immerhin modisch die beste Figur aller Liga-Trainer ab. Hertha aber ist noch immer kein „Big-City-Club“, wie von Lars Windhorst erträumt, eher eine graue Maus mit Geld – hoffentlich auf dem Sprung nach vorn. Mein Fazit: 2021 kann alles nur besser werden.