Wenig Glanz, viel Kult
Als Team haut Stendal nie auf die Pauke, Stars aber hatte Lok, genau wie PSV Schwerin mit Steffen Baumgart, trotzdem.

Beide gehören nicht zu den Größen des runden Leders im Osten der Republik. Ganz unterm Radar sind sie trotzdem nicht gelaufen. Im Gegenteil. Auf ziemlich spektakuläre Momente dürfen sie heute noch stolz sein in Stendal und in Schwerin. Im Pokal haben sie für Furore gesorgt, Nationalspieler kamen aus ihren Reihen hervor, Torschützenkönige bildeten den Schrecken der gegnerischen Abwehrreihen, und auch Publikumslieblinge sind bei ihnen gewachsen. Nur auf ihn müssen sie inzwischen verzichten: Einer wie Kurt kommt nicht mehr.
Mit diesem Begriff ist damals noch niemand hausieren gegangen: Kult-Spieler. Wenn es einer bei Lok Stendal seinerzeit aber war, dann Kurt Liebrecht. Auf ihren „Kuddel“ lassen sie nichts kommen in der Altmark. Mit 16 Länderspielen ist er der Rekordnationalspieler seines Vereins, mit Ernst Lindner (6 Länderspiele) und Gerd Backhaus (3) gibt es bei Lok jedoch zwei weitere Nationalspieler, die im Stadion „Am Hölzchen“ zu Hause waren und nicht nur dort Tore wie am Fließband erzielten. Lindner wurde 1956 bester Torjäger der DDR-Oberliga und Backhaus, Mitglied des Olympiateams, das 1964 in Tokio Bronze gewann und zu dem Liebrecht den Sprung nur um Haaresbreite verpasste – acht Jahre später. Mit Kurt Weißenfels, Torschützenkönig 1952, haben sie das beste Vorbild in ihren eigenen Reihen.
Die ganz große Überraschung indes schaffen die Stendaler nicht in ihren 14 Spielzeiten in der Oberliga – das sind exakt so viele, auf die es Energie Cottbus und Stahl Brandenburg gemeinsam bringen –, Rang 4 bleibt ihre beste Platzierung. Im Pokal aber stürmen sie 1966 bis ins Endspiel vor, scheitern da aber mit ihrer besten Besetzung aller Zeiten, mit dem einstigen Torjäger Lindner als Libero, mit Pferdelunge Liebrecht auf der rechten Flanke und mit Knipser Backhaus im Sturmzentrum, mit 0:1 denkbar knapp an Chemie Leipzig.
Von diesen Jahren können sie in der Altmark schon lange nur noch träumen. Dabei schien es, als könnten sie es Ende der 80er-Jahre zu einer Renaissance bringen. Mit der Rückkehr in die zweistafflige DDR-Liga klopften sie an die Tür zum großen Fußball – mit der Wende aber geht dieser Traum in die Brüche. Nur einmal noch, wieder im Pokal, sorgen sie für Schlagzeilen; als der Drittligist die drei Zweitligisten VfL Wolfsburg, Hertha BSC und Waldhof Mannheim ausschaltet, im Viertelfinale erst im Elfmeterschießen an Bayer Leverkusen scheitert und der damalige Bayer-Coach Erich Ribbeck mit der Antwort auf die Frage, ob er denn wisse, wo Stendal liege („Irgendwo bei Altmark“), bis auf die Knochen blamiert ist.
Seitdem jedoch geht es Periode für Periode nach unten – im Jahr 2000 in die viertklassige Oberliga, 2003 in die fünftklassige Verbandsliga Sachsen-Anhalt, die ab 2008 mit Einführung der 3. Liga nur noch sechstklassig ist. Zwar gelingt nach 14 Jahren in der Verbandsliga 2017 der Aufstieg in die Regionalliga, dort aber schauen die Stendaler fast immer nur nach unten und schaffen es zuletzt in der abgebrochenen Saison bei 18 Spielen auf lediglich drei Siege.
Umso mehr setzt ihnen ein Streit zwischen den jetzigen Machern und deren Vorgängern zu. Dabei glaubten sie das Schlimmste viele Jahre zuvor mit zwei Insolvenzen und Änderungen des Namens von Lok zu FSV Lok Altmark zu 1. FC Lok hinter sich. Denkste: Die Geldprobleme sind größer denn je. Nicht die Corona-Pandemie sei daran schuld, sondern die Misswirtschaft der jüngsten Vergangenheit. Unter dem damaligen Präsidenten Prof. Dr. med. Ulrich Nellessen hatten sie wieder angegriffen unter dem Motto: „Wir leben von der Tradition, aber wir wollen auch mehr als nur Verbandsliga.“ Sportlich, so meinten sie, sei die Oberliga machbar, legten sich aber eine Bedingung auf: Wenn es auch sonst stimmt …
Die Oberliga bliebt ein Drahtseilakt für Stendal
Es hat anscheinend nicht gestimmt. Allein im vorigen Jahr soll der 1. FC Lok Verluste in fünfstelliger Höhe eingefahren haben. Mit dem Aufstieg in die Oberliga habe sich der Verein, auch im Jubel und Trubel um eine erneute Teilnahme am DFB-Pokal, finanziell überhoben. Das neue Präsidium, Ende vorigen Jahres gewählt, bekämpft den drohenden Kollaps. Thomas Weise, der neue Vereinspräsident, widerspricht den Pleite-Gerüchten vehement und sagt nahezu beschwörend: „Wir haben noch viele Hausaufgaben, aber wir müssen keinen Kredit aufnehmen, um unsere Verpflichtungen zu erfüllen. Lok Stendal hat nicht einen Cent Verbindlichkeiten.“ Nur: Ob die Oberliga weiterhin zu stemmen ist, bleibt ein Drahtseilakt.
Das wird umso schwieriger, da Jörg Ohm, Jahrzehnte die gute Seele des Vereins, auch wenn er als Spieler für eine gewisse Zeit abtrünnig, dafür aber mit Chemie Leipzig und dem 1. FC Magdeburg zusammen viermal Meister geworden und ein Vermittler zwischen allen Ebenen war, nicht mehr helfen kann. „Mister Lok Stendal“ ist im Frühjahr verstorben.
Längst nicht so viel Erstliga-Tradition, dafür aber ein besonderes Bonbon bringt der PSV Schwerin in die Endphase des DDR-Fußballs. Zwar gehört Vorwärts Schwerin 1949 zu den 14 Gründungsmitgliedern der Oberliga, aber nach dem Abstieg gleich nach der ersten Saison kehrt keiner der Nachfolger als Erstligist zurück. Als Dynamo haben sich die Mecklenburger auf Ewigkeiten in der Zweitklassigkeit eingerichtet – bis sie zuletzt im FDGB-Pokal kräftig auf die Pauke hauen. Von Sieg zu Sieg eilen sie, sie schalten Motor Babelsberg, Stahl Riesa und Schifffahrt/Hafen Rostock aus, werfen, da schon in PSV umbenannt, mit dem 1. FC Magdeburg und dem 1. FC Lok Leipzig zwei wahre „Riesen“ aus dem Wettbewerb und liegen im Finale gegen Dynamo Dresden nach fünf Minuten mit 1:0 in Führung. Erst spät kippen die Dynamos mit Toren der Nationalspieler Jörg Stübner und Ulf Kirsten zum 1:2 die Partie.
Für den einstigen PSV ist nach etlichen Umbenennungen und Fusionen als nunmehriger FC Mecklenburg Schwerin die Verbandsliga das angestammte Zuhause, der eine oder andere Ausflug in die Oberliga inbegriffen. Für manche Spieler des damaligen Pokalfinalisten aber öffnet sich die große Welt des Profifußballs. Mittelfeldmann Matthias Stammann wird mit Bayer Leverkusen 1993 DFB-Pokalsieger, Andreas Reinke ist der erste Torhüter, der in der Bundesliga mit zwei verschiedenen Vereinen (1998 mit Kaiserslautern, 2004 mit Bremen) zu Meisterehren kommt und mit beiden auch Pokalsieger wird. Und wer Fan des 1. FC Union Berlin ist, dem muss niemand mehr etwas über Steffen Baumgart erzählen. „Baume“, damals das 18-jährige Küken des PSV, ist nach zusammen 225 Bundesligaspielen für Hansa Rostock, den VfL Wolfsburg und Energie Cottbus als Publikumsliebling in Köpenick zur Legende geworden und hat als Trainer des SC Paderborn nochmals Bundesligaluft geschnuppert.
Es gibt sie also auch, die Sieger der Wende. Es sind nicht die Vereine, sondern in der überwiegenden Mehrzahl die Spieler. In diesem Fall sogar die aus der zweiten Liga.