Geisterspiele : „Da ist etwas weggebrochen, das ich unheimlich vermisse“
Joachim Streich (69), DDR-Rekordmann und Fußball-Junkie, leidet unter dem Ausfall der Spiele wie ein Hund.

Unter ruhendem Ball versteht ein Fußballer normalerweise etwas ganz anderes. Die Fans des 1.FC Union fragen am besten bei Torsten Mattuschka nach, dem ungekrönten Meister der Eisernen in dieser Teildisziplin.
Dass das Runde noch immer nicht ins Eckige fliegen darf, auch nicht nach Freistößen oder Elfmetern, ist angesichts viel größerer Sorgen in diesen Tagen eines der kleineren Probleme. Nur: Keine Spiele und erst recht keine Tore, das trifft am meisten die regelrechten Junkies, die leiden wie die Hunde und fühlen sich schwer auf Entzug.
So ähnlich geht es Joachim Streich (69). Der ewige Rekordmann des DDR-Fußballs sagt über die gefühlte kollektive Rote Karte: „Sport ist Teil meines Lebens. Er fehlt mir sehr.“
Streich vermisst den Fußball
Angesichts der Lage insgesamt und vor allem in den am härtesten betroffenen Regionen der Welt ist das eher der pure Luxus. Wer jedoch wie der 102-malige Nationalspieler sowie Länderspiel- und Oberliga-Rekordtorschütze aus Deutschlands Osten mit ganzem Herzen am Sport allgemein und am Fußball sowieso hängt, für den fühlt sich die Zeit des Stillstandes schmerzlicher an als eine knochenharte Saisonvorbereitung. „Es ist ganz komisch und ich habe mir das niemals vorstellen können“, sagt Streich, „aber da ist etwas weggebrochen, das ich unheimlich vermisse.“
Ganz so, dass der einstige Weltklassestürmer an ursprünglichen Spieltagen wie ein aufgescheuchtes Wild durch sein Häuschen in Möckern in der Nähe von Magdeburg tigert, ist es zwar nicht. Viel fehlt aber nicht. „Ich erwische mich durchaus dabei, dass ich denke: ,Jetzt müsste doch die 2. Bundesliga beginnen und jetzt der Anpfiff zur Bundesliga erfolgen‘“, gibt er zu. „Ich sitze zwar nicht da und warte auf den Anpfiff, aber ich sehe den Fernseher und meine, da sollte sich jetzt gleich was bewegen. Aber es bewegt sich nichts, der Apparat bleibt schwarz!“
Natürlich weiß der viermalige Oberliga-Torschützenkönig, dass er mit diesem Gefühl nicht allein ist. Andere leiden wahrscheinlich noch mehr als er: „Es ist ja nicht so, dass die Spiele einfach nur nicht stattfinden, auch für die Fans ist ein wichtiges Stück ihres Lebens weggebrochen, sie haben den Höhepunkt der Woche verloren. Die freuen sich ja noch viel mehr auf ihre Mannschaft und fiebern mit.“
Sehnsucht der Anhänger
Gerade einer wie Streich, der für Hansa Rostock und Magdeburg in 16 Erstligajahren 378 Spiele bestritt und die mit Abstand meisten Tore erzielte, 229 nämlich, und danach viele Jahre als Trainer arbeitete, kann die allgemeine Sehnsucht der Anhänger verstehen: „Fußball bewegt bei uns nun mal die Massen. Und die haben Hunger darauf, sie wollen gefüttert werden.“
Für ihn sind Angebote mancher TV-Kanäle mit Fußball-Klassikern vergangener Zeiten kein ernst zu nehmender Ersatz. „Da gucke ich höchstens ein paar Minuten zu, denn ich lebe ja nicht in der Vergangenheit.“
Was also dann? Na klar, der Garten bleibt als Spielfeld. „Ja ja, das Unkraut wächst immer, das ist derzeit mein härtester Gegenspieler“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Auch sonst hat Streich seinen unverwüstlichen Humor nicht verloren. „Vertikutieren darf ich und Rasen mähen auch, aber einen grünen Daumen habe ich schon gar nicht und meine Frau weist mir nur die niederen Arbeiten zu.“ Marita spielt das Spielchen mit und ruft dazwischen: „Ach, und mit meiner Frau sollte ich auch mal wieder reden…“ Dabei haben die beiden noch Glück, „denn wenn wir uns aufs Fahrrad setzen“, erzählt der einstige Torjäger, „sind wir gleich im Wald.“ So eine Tour ist ja erlaubt.
Kein Freund von Geisterspielen
Trotzdem fehlt was: der Fußball. „Ich kann mir momentan gar nicht vorstellen, dass die Saison in allen Ligen wieder startet. Andererseits weiß ich aber auch, dass mit Fußball in der Spitze nicht nur Millionen, sondern Milliarden bewegt werden. Das ist eine Hausnummer, die nicht wegzudiskutieren ist.“ Es geht ans Eingemachte, es kratzt bei nicht wenigen an der Existenz. „Wie sich das alles entwickelt“, sagt Streich, „kann man beim besten Willen nicht absehen.“
Bleiben als womöglich einziger Ausweg bis mindestens 31. August Geisterspiele. Auch davon ist Streich kein Freund. „Wir Deutschen sind ja in der Regel ziemlich diszipliniert und halten uns zumeist an die Vorgaben. Aber Spiele ohne Fans stelle ich mir grausig vor. Zum Beispiel steht in der Bundesliga das Top-Spiel von Dortmund gegen die Bayern aus, das kann ohne Atmosphäre eigentlich gar keinen Spaß machen. Da weiß ich, dass selbst ich, der für den Fußball brennt wie sonst was, mich komisch tue, das im Fernsehen anzuschauen.“ So fühlt ein Sport-Junkie und ein Fußball-Denkmal.
Eines aber muss der Rekordmann des Ost-Fußballs dann doch anerkennen: Dieser unsichtbare Gegner, dieses heimtückische Virus, legt selbst ihn, den einstigen Dribbelkünstler mit dem einzigartigen Torriecher, an die Kette.