EM? Auf Wiedersehen im nächsten Jahr!
Fast schon vergessen: In Rom sollte an diesem Freitag der paneuropäische Titelkampf beginnen

Wo Italien gegen Türkei in Rom draufgestanden hat, ist inzwischen Hoffenheim gegen RB Leipzig in Sinsheim drin. Wenn am Dienstag Deutschland gegen Frankreich in München angepfiffen werden sollte, gibt es jetzt 1. FC Union gegen Paderborn in Köpenick und Freiburg gegen Hertha BSC im Breisgau. Kein Spaß, es wäre EM. Eigentlich. Nur nicht jetzt, nicht 2020. Das Turnier kreist in der Warteschleife. Auf Wiedersehen im nächsten Jahr.
Cristiano Ronaldo könnte sich freuen. Noch nie war ein Team so lange Europameister wie seins, ohne dass eine andere Mannschaft die Chance gehabt hätte, den Titelträger vom Thron zu stoßen. Dieser Tage hätten die Portugiesen ihren 2016 in Paris gewonnenen Titel, den ersten wirklich zählbaren für ihr Land, verteidigen sollen. Gegen Deutschland, gegen Weltmeister Frankreich und im ersten Spiel am Dienstag gegen ein drittes Team, das sich noch gar nicht qualifiziert hat. Genau an diesem Freitag nämlich sollte das paneuropäische Turnier beginnen mit 51 Spielen in zwölf Ländern. In 31 Tagen, mit dem Finale am 12. Juli in London, sollte der neue Titelträger gekürt werden.
Verschoben ist das Fest um genau ein Jahr, vom 11. Juni bis 11. Juli 2021 soll es nunmehr stattfinden. Die große Frage lautet, da außer dem Namen - es geht auch dann noch um die Euro 2020 - alles ungewisser ist denn je: Kann das Turnier in zwölf Monaten so ausgetragen werden wie vorgesehen? Sind alle Spielorte, neben Rom und London sind es Glasgow in Schottland und Bilbao in Spanien, Dublin in Irland und Bukarest in Rumänien, St. Petersburg in Russland und Baku in Aserbaidschan, Amsterdam in den Niederlanden und Budapest in Ungarn, Kopenhagen in Dänemark und München, wo der dreimalige Europameister Deutschland alle seine Gruppenspiele austragen soll, dann noch bereit?
Die Idee des europäischen Fußballverbandes Uefa ist es, beim ursprünglich ausgetüftelten Spielplan und auch bei den Austragungsorten zu bleiben. Im Prinzip. Nur hat Aleksander Ceferin, der slowenische Uefa-Präsident, bei einer ersten Abfrage im Mai festgestellt, dass es einige Wackelkandidaten gibt. Rom und Bilbao, die Spielorte in den in Europa am schwersten von Covid-19 betroffenen Ländern Italien und Spanien, seien darunter.
Klar aber ist: Fällt ein Spielort aus, kommt kein neuer hinzu. Dann werden die Spiele auf die bereits festgelegten Stadien verteilt. „Grundsätzlich bleiben wir bei zwölf Spielorten“, sagt Ceferin, „wir sind aber genauso bereit, das Turnier in elf, zehn, neun oder acht Orten auszutragen.“ München, wo neben den drei Gruppenspielen der deutschen Mannschaft ein Viertelfinale stattfinden soll, ist stabil. Auch London signalisiert weiterhin Bereitschaft.
Als ob das alles nicht schon verrückt genug wäre, hat es schon vorher Kuriositäten aller Art gegeben. Wir erinnern uns: Deutschland hat seine Quali-Gruppe gewonnen und dafür mit Portugal den Europameister und mit Frankreich den Weltmeister vor den Latz bekommen. Eigentlich ein Judaslohn. Na gut, Bundestrainer Joachim Löw hat ein Jahr länger Zeit, sein Team nach der total verkorksten WM 2018 neu zu strukturieren. Erste Fortschritte hat er erzielt, von Stabilität aber kann noch keine Rede sein. Nur: Ist diese Hammer-Gruppe angesichts der Konstellation, die die Niederlande, hinter dem DFB-Team Quali-Zweiter, erwischt haben, gerecht. Die Oranjes bekommen es mit der Ukraine, mit Österreich und mit einem noch zu ermittelnden Außenseiter zu tun. Es ist die wahrscheinlich leichteste Gruppe des Turniers.
Andererseits bringen die Außenseiter eine neue Nuance ins Spiel. Bislang steht allein Finnland als Neuling fest. Für ganz Suomi ist das ein Märchen, was das Team um den Ex-Schalker Teemu Pukki, er erzielte neun der 15 finnischen Quali-Tore, und den Leverkusener Torhüter Lukas Hradecky geschafft hat. „Wir haben davon geträumt, seit wir 1938 erstmals an einer WM-Qualifikation teilgenommen haben“, twitterte die Mannschaft nach ihrem Husarenritt, „der Traum von Generationen ist wahrgeworden.“ Nach mehr als 30 vergeblichen Anläufen in 80 Jahren haben sie das, was nicht einmal ihren Legenden, dem exzellenten Mittelfeldspieler Jari Litmanen und dem furchteinflößenden Abwehr-Recken Sami Hyppiä, vergönnt war, endlich, endlich gepackt.
Was aber bedeutet die Verlegung für manchen Spieler gerade aus dem deutschen Team? Marco Reus könnte ein Gewinner werden. Weil der Kapitän von Borussia Dortmund bereits vier Monate an einer Verletzung der Adduktoren leidet, hätte er nach der WM 2014 und der EM 2016 sein nächstes großes Turnier verpasst. So aber eröffnet sich dem aktuellen Fußballer des Jahres die unverhoffte Chance, doch einen wichtigen Titel zu gewinnen. Auch Bayerns Niklas Süle wäre nach seinem Kreuzbandriss nicht rechtzeitig fit geworden. Im nächsten Jahr, so zumindest hofft Bundestrainer Joachim Löw, sollte der Haudegen eine Defensiv-Stütze im Adler-Team sein.
Und Cristiano Ronaldo? Können die Portugiesen, wie es bisher nur Spanien 2012 gelungen ist, ihren Titel erfolgreich verteidigen? Darf sich der fünfmalige Weltfußballer des Jahres wieder freuen? Zumindest was die Jagd nach Rekorden angeht? Etliche EM-Bestmarken hält er schon. Es wäre seine fünfte Endrunde, die bisher nur Spaniens Torwart-Ikone Iker Casillas in seiner Vita hat. Dabei kam der Schlussmann bei zweien, 2000 und 2016, gar nicht zum Einsatz. Ronaldo wäre damit der erste Spieler mit fünf „richtigen“ Endrunden. Die meisten Spiele bei diesen Turnieren, nämlich 21, hat er sowieso schon bestritten. Rekord-Torschütze, gemeinsam mit dem Franzosen Michel Platini, der seine neun Treffer allerdings bei nur einer Endrunde (1984) erzielt hat, ist Portugals Superstar auch.
Nur ein kleiner Hinweis an CR7: Die Rekordflut muss noch kein Ende haben. Denn älter als er mit dann 36 Jahren war ein Europameister noch nie …