Trainerlegende : Ede Geyer: "Torjubel auf Abstand ist schlimmer als der Videobeweis"
Der 75-Jährige Kult-Coach hat große Sehnsucht nach Fußball mit echter Emotion, Dynamik und Draufgängertum.

Um klare Worte war Eduard Geyer (75) nie verlegen. Die Sprüche des letzten Trainers einer DDR-Nationalmannschaft sind legendär. Da machte er schon mal junge Spieler an, weil deren Berufseinstellung mieser sei als die der Sexarbeiterinnen auf St. Pauli. Sie würden ebenso rauchen, saufen, rumhuren und erst morgens um 6 Uhr ins Bett gehen.
Als Coach von Energie Cottbus, der die Lausitzer 1997 ins DFB-Pokalfinale und in die Zweite Liga sowie 2000 in die Eliteliga des deutschen Fußballs führte, bewies er jedoch, dass er sein Fach blendend versteht und auch mit namenlosen Spielern für Furore sorgen kann. Deshalb ist es in der aktuellen Situation keine Frage, dass Geyer Sehnsucht hat nach Fußball mit Emotion, Dynamik und Draufgängertum.
Torjubel auf Abstand? Das kann sich der einstige „Schleifer“ („Gegen mein Training ist Bundeswehr wie Urlaub“) nicht wirklich vorstellen: „Das ist ja schlimmer als der Videobeweis!“ Die mögliche Wiederaufnahme der Bundesliga sieht der Coach, der in erster Linie die Spiele seines Heimatvereins Dynamo Dresden besucht, mit einem weinenden und einem lachenden Auge. „Das ist eine ganz schwierige Situation“, sagt Geyer, „dazu gibt es 100000 Meinungen. Jeder, der auch nur drei Sätze annähernd fehlerfrei sprechen kann, versucht sich zu artikulieren, aber jeder macht einen anderen Vorschlag. Ich selbst bin da ziemlich gespalten.“
Einerseits versteht der große alte Mann der Trainergilde (von den zwölf Länderspielen unter seiner Leitung verlor das DDR-Team nur zwei, gewann aber acht) die Bestrebungen, die Saison auch aus wirtschaftlichen Gründen sportlich zu Ende zu bringen. „Mehr oder weniger brauchen ja alle das Geld aus der letzten TV-Rate, um zu überleben.“ Andererseits weiß er: „Es gibt zeitlich kein stabiles Fenster, das man öffnen kann. Wir müssen von Woche zu Woche schauen.“
Aufzeichnungen aus Cottbus
So sehr Geyer mit dem Fußball regelrecht verschweißt ist, die Entscheidung, was richtig oder falsch ist, möchte er nicht treffen. Einer der Gründe für sein Zögern mag auch an seinem Alter liegen. Der Altmeister unter den Trainern ist zwar nach wie vor fit, gehört mit seinen 75 Jahren aber trotzdem zur Risikogruppe. Nicht nur deshalb lautet sein Credo: „Es gibt nur dieses eine Leben, deswegen ist jedes kostbar und wertvoll. Wir sind doch soziale Wesen, deshalb sollte man bei seiner Entscheidung lieber einmal mehr überlegen als einmal zu wenig.“
In der Zwischenzeit – und um nicht ganz auf Abstinenz zu kommen – zog sich der Trainer etliche Aufzeichnungen der Spiele mit Cottbus rein. „Von diesen Kassetten habe ich eine ganze Kiste voll. Nach so langer Zeit habe ich mir einige wieder angesehen und muss sagen: Interessant! Was da in unseren Aufstiegsspielen gegen Hannover für Musik drin war, unglaublich. Da wurde auch mal der Schiedsrichter angefasst, dafür würde heute jeder gleich zweimal vom Platz fliegen.“
Wer Geyer auch nur ein bisschen kennt, ahnt: Dort, wo Kerle zur Sache gehen, macht es ihm doppelt so viel Spaß. Dabei hat der rustikale Typ, der als Coach „Männer brauchte und keine Abziehbilder“, sowohl ein Herz für den großen und fast noch mehr für den kleinen Fußball. „Was wird jetzt nicht geredet davon, dass das ja alles Millionäre sind in der Bundesliga. Das mag stimmen, aber ich reduziere den Fußball nicht allein auf die Millionen. Er gibt der Gesellschaft auch was. Er ist Kommunikation, Ablenkung, Erleben, Emotion. Für manchen sogar so etwas wie eine Religion. Das sollte man nicht außer Acht lassen.“
Rückkehr zur Normalität
Zugleich bricht Geyer eine Lanze für die Rolle des Sports als soziale Klammer: „Für mich ist Fußball, sind auch die anderen Sportarten wichtig für die Kinder und Jugendlichen. Der Sport hat große Verantwortung für den Alltag. Man lernt Zusammenhalt, Disziplin, entwickelt Ehrgeiz, Siegeswillen.“
Natürlich wäre Geyer froh, könnte die Gesellschaft nicht nur im Sport möglichst bald zur Normalität zurückkehren. „Auch ich gehe gern essen und trinke mal ein Glas Wein dazu, insofern sind die Einschränkungen durchaus ein Lebensverlust. Ich möchte ja auch soziale Kontakte pflegen. Aber was soll ich machen? Dann muss ich eben Opfer bringen. Das machen die Leute doch auch, die meisten sind ja vernünftig und einsichtig.“ Allerdings richtet er sich auf eine längere Geduldsprobe ein, sagt: „Vielleicht haben wir im Oktober/November alles im Griff.“
So lange wird das im Sport und speziell im Fußball, so Geyers Hoffnung, nicht dauern. Auch für ihn wären Geisterspiele wohl ein erster Schritt zur Normalität. Partien in leeren Stadien, ohne die gewohnte Atmosphäre, stellt Geyer sich dennoch gespenstisch vor. „Ich tue mich schon mit dem Videobeweis sehr schwer“, sagt er, „soll ich mich bei einem Tor freuen oder soll ich es nicht? Was wird denn jetzt beim Torjubel? Wenn ich mich nicht mehr umarmen darf, ist das ja kein Jubel. Wie soll ich mich da bloß am Fernseher mitfreuen?“ Auch wenn es keinen anderen Ausweg geben sollte als Spiele ohne Fans und die, das weiß Geyer auch, das kleinere Übel wären, bleibt er dabei: „Geisterspiele sind sch…, die kommen noch vor dem Videobeweis.“