Zugreiniger Marcel Ballin: „In der ersten Klasse ist mehr Müll als in der zweiten.“
Sind die Fahrgäste draußen und der Lokführer im Feierabend, beginnt im ICE ein neuer Wettlauf gegen die Uhr. Nach der Fahrt ist vor der Fahrt. Die Bahn kann sich hier keine Fehler leisten.

Marcel Ballin muss sich im Waggon nicht mehr umsehen, um zu wissen: „In der ersten Klasse ist mehr Müll als in der zweiten.“ Der 49-Jährige hat wenig Zeit, sich über Abfall aufzuregen. Mit Müllsack und Lappen eilt er durch die Sitzreihen, wischt Kaffeeflecken von Tischen, bürstet Krümel von Sitzen. 25 Minuten Zeit. Der ICE 553 soll zügig wieder fahren.
Ballin arbeitet an einem Ort, den kein Fahrgast je erreicht – außer er verschläft die Endstation. Im Osten Berlins, zwischen einem Kraftwerk und Kleingärten, liegt eines der größten ICE-Werke der Bahn.

Im Stadtteil Rummelsburg überprüfen Fachleute Fahrwerke, Bremsen und Elektronik, dort werden Bordküchen repariert und manches Malheur von Fahrgästen beseitigt. 75 Züge stellen sie am Tag bereit. Soll der große Plan aufgehen, dass bald doppelt so viele Menschen Zug fahren, muss auch hier jeder Handgriff sitzen. Denn der Komfort muss stimmen.
Das gilt schon für die Zugtoilette. Außen am ICE 553 schließen Schichtleiter Ballin und seine Leute armdicke Schläuche an. Minutenlang strömt das Abwasser – bis zu 1000 Liter können es sein – dann sind die Klos entleert.
Nicht immer bleibt dafür Zeit. Kommt ein Zug verspätet ins Werk, fährt er manchmal mit voller Toilette wieder raus. „WC unbenutzbar“ steht dann an der Tür, zum Ärger der Fahrgäste. Streikt die Kühlung im Speisewagen, müssen die Geräte stundenlang abtauen. Im Bordrestaurant gibt es dann nichts zu essen.
Heute klappt alles. Nach einer knappen halben Stunde wartet Ballins Team am Bahnsteig auf den nächsten Zug, den Blick auf eine Baustelle. Das ICE-Werk wird ausgebaut. So wie nahezu alles ausgebaut wird bei der Bahn: die Knoten im Netz, die Zugflotte, die Belegschaft. Der größte deutsche Staatskonzern ist eine Großbaustelle.
Denn die Bundesregierung hat ihr eine Schlüsselaufgabe zugewiesen. Will Deutschland seine Klimaziele erreichen, müssen mehr Menschen umsteigen. Vom Flugzeug in den Zug, vom Auto in den Zug. Und es müssen mehr Güter auf die Schiene. Viele Milliarden fließen dafür in den nächsten Jahren. „Rückenwind in Sturmstärke“ spürt der Vorstand für seine Strategie „Starke Schiene“.
Marcel Ballin reinigt seit bald einem Vierteljahrhundert Züge, er sieht es nüchtern. „Ich mach das nicht fürs Unternehmen“, sagt er, zieht die Träger seiner Latzhose zurecht und blickt unter der dunklen Schirmmütze hervor. „Ich mach das für den Fahrgast, er muss zufrieden sein. Er hat einen Anspruch auf einen sauberen Zug.“

Auch eine sichere Reise können Kunden erwarten. Darum kümmert sich Rocco Adamski. In einer Halle duckt sich der Fahrzeuginspekteur unter rund 700 Tonnen Stahl und Kunststoff. Rostige Metallteile auf dem Boden der Grube künden vom Verschleiß älterer Züge.
Doch der Zug, der über Adamski thront, ist nagelneu. Ein 13-teiliger ICE4, 370 Meter lang. Mit einer großen Batterielampe leuchtet Adamski auf Achsen, Räder, Bremsen. Kleinste Risse können auf Brüche hindeuten, Verfärbungen auf heiß gelaufene Bremsen. Alle 10.000 bis 15.000 Fahrkilometer steht die Kontrolle an.
Die Mütze über Adamskis Zopf ist mit einer Plastikschale verstärkt, denn in der Grube stößt man sich schon mal den Kopf. Rund vier Stunden ist der Inspekteur unter dem Zug unterwegs. Soviel Zeit müsse sein. „Ich befördere damit ja Menschen“, sagt Adamski. „Damit kann ich nicht so lapidar umgehen.“
Wencke Wallstein kann dreistellige Zugnummern hervorbringen wie andere die Namen ihrer Bekannten. Manche Züge sehe man im Werk alle drei Tage. Wallstein leitet die Bereitstellung der Fahrzeuge. In schwarzem Business-Kostüm und Ballerinas überquert sie Gleise und Stahlbrücken.
Wallstein achtet darauf, dass Reinigung und Instandhaltung gut zusammenarbeiten, dass die Catering-Mitarbeiter die Züge neu befüllen können. Gelegentlich lädt sie Zugbegleiter ins Werk ein, damit diese den Kunden sagen können, was hinter den Kulissen läuft. „Gerade wenn mal was nicht funktioniert, hilft es ja auch zu sagen, woran es liegt.“

„30 Jahre ICE“ steht auf einer Stecknadel an Wallsteins Revers. Noch zu Bundesbahn-Zeiten war Deutschland 1991 ins Hochgeschwindigkeits-Zeitalter gestartet, der ICE ein Symbol des Fortschritts. Es folgte der Abschied von der Behördenbahn, Profit-Orientierung, Börsenpläne, eine internationale Einkaufstour der Bahn und ihr Aufstieg zum weltweiten Logistiker.
In Deutschland bröckelten derweil die Brücken, kamen Stellwerke in die Jahre, summiert sich der Sanierungsstau auf bald 60 Milliarden Euro. Die Folge: Verspätungen und Zugausfälle. Es gibt Millionen Kunden, und fast jeder kann ein Lied davon singen. Die Bahn ist immer für einen Aufreger gut.

Seit wenigen Jahren wird umgesteuert. In der Klimakrise hat Deutschland die Eisenbahn wieder entdeckt, Geld scheint kaum noch eine Rolle zu spielen. Im Fernverkehr sollen 2030 doppelt so viele Menschen fahren wie 2015.
Und der ICE ist immer noch da, mittlerweile in der vierten Generation – eine „Idee der Zukunft“, lobte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jetzt zum Geburtstag. Den Namen „Bundesrepublik Deutschland“ verlieh das Staatsoberhaupt einem neuen Zug, bereitgestellt vom Werk Rummelsburg. „Das war ein schönes Abenteuer“, sagt Wallstein.
Zugreiniger Marcel Ballin hat die wechselvollen Jahrzehnte vom Werk Rummelsburg aus verfolgt. Was hat sich für ihn geändert? Er findet, dass die Fahrgäste die Züge schmutziger hinterlassen. Umgekippter Kaffee, Kaugummi auf dem Boden – an solchen Plätzen nimmt keiner gern Platz. Deshalb hängt der Erfolg der Bahn auch an Ballin und seinem Team. Mit lautem Knall klappen sie die gereinigten Tische hoch. Den Lärm? „Krieg ich gar nicht mehr mit.“