Kurz nach dem Unfall in der Invalidenstraße, Ecke Ackerstraße: Mit Blumen und Kerzen wird der vier getöteten Menschen gedacht.
Kurz nach dem Unfall in der Invalidenstraße, Ecke Ackerstraße: Mit Blumen und Kerzen wird der vier getöteten Menschen gedacht. dpa/Zinken

Der Unfall schockte damals die ganze Stadt. Als der Fahrer eines Porsche Macan die Kontrolle über seinen zwei Tonnen schweren SUV verlor und in eine an einer Ampel wartende Menschengruppe schoss. Vier Menschen starben. Der Unfall an jenem Septembertag 2019  hat das Leben vieler Familien zerstört. Seit vergangenen Oktober geht es im Prozess darum, ob der Fahrer am Steuer des SUV hätte sitzen dürfen. An diesem Donnerstag will das Berliner Landgericht sein Urteil verkünden.

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War es Verantwortungslosigkeit, die 2019 zu dem schweren Autounfall in der Berliner Innenstadt mit vier getöteten Fußgängern führte? Staatsanwaltschaft und Anwälte von Hinterbliebenen sind davon überzeugt. Der Angeklagte habe bewusst gegen ärztliche Auflagen verstoßen, habe sich trotz einer Epilepsie und einer Gehirnoperation nur einen Monat zuvor an das Steuer seines Wagens gesetzt. „Er verstieß bewusst gegen ärztliche Weisungen“, sagte einer der Nebenklage-Anwälte im Prozess.

Das Leid einer Mutter, die ihren Sohn verlor: „Wir krümmen uns vor Schmerz. Wir weinen und weinen und weinen.“

Die meisten Nebenkläger fanden in den zurückliegenden dreieinhalb Monaten nicht die Kraft an dem Prozess gegen den inzwischen 45 Jahre alten Autofahrer teilzunehmen. Ihre Anwälte gaben ihrem Leid eine Stimme in verlesenen Erklärungen ihrer Mandanten: „Wir krümmen uns vor Schmerz. Wir weinen und weinen und weinen“, schrieb eine 38-Jährige. Sie musste am 6. September 2019 mitansehen, wie ihr dreijähriger Sohn und ihre 64 Jahre alte Mutter zeitgleich starben. Ein „schwarzes, riesiges Ding“ habe sie gestreift, verlas ihre Anwältin. „Das Auto nimmt alles mit auf seinem Weg.“

Der Porsche Macan raste über den Bürgersteig, zertrümmerte alles, was ihm in den Weg kam.
Der Porsche Macan raste über den Bürgersteig, zertrümmerte alles, was ihm in den Weg kam. dpa/Pedersen

Der Angeklagte saß an jenem folgenschweren Tag am Steuer eines SUV, als er einen epileptischen Anfall erlitten haben soll. Mit mehr als 100 Kilometern pro Stunde fuhr er laut Gutachten auf den Gehweg der Invalidenstraße in Berlin-Mitte, riss einen Poller und eine Ampel mit sich, raste in eine Fußgängergruppe. Neben den Jungen und seiner Großmutter wurden zwei 28 und 29 Jahre alte Männer getötet.

Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt - und schnell eine Diskussion um die Gefahren im Straßenverkehr ausgelöst. Anfangs stand dabei die Frage im Fokus, ob SUV-Fahrzeuge besonders gefährlich sind. Dann konzentrierte sich die Debatte auf die insgesamt angespannte Verkehrssituation im Umfeld des Unfallortes. Strafrechtlich jedoch stand schnell die Gesundheit des angeklagten Unternehmers im Zentrum. Die medizinischen Fragen prägten die Beweisaufnahme des Prozesses.

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Der Angeklagte hat wegen eines epileptischen Anfalls verkrampft und das Gaspedal durchgetreten

„Sie hätten auf gar keinen Fall fahren dürfen“, betonte Oberstaatsanwalt Dirk Klöpperpieper in seinem Plädoyer vor rund zwei Wochen. Der Angeklagte habe wegen eines epileptischen Anfalls verkrampft und das Gaspedal des sehr schnellen Wagens voll durchgetreten. Aus Sicht des Staatsanwalts ist der Deutsche wegen fahrlässiger Tötung in vier Fällen sowie der Gefährdung des Straßenverkehrs schuldig zu sprechen. Klöpperpieper forderte eineinhalb Jahre Haft auf Bewährung.

Verteidiger Robert Unger plädierte hingegen auf Freispruch. Sein Mandant habe im Mai 2019 erstmals einen epileptischen Anfall erlitten. Ein kleiner Hirntumor sei minimalinvasiv entfernt worden. Keiner seiner behandelnden Ärzte habe vor dem Unfall eine strukturelle Epilepsie diagnostiziert. Es habe keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er nochmals einen Krampfanfall erleiden könnte.

Figuren, die die Opfer darstellen, liegen bei der Mahnwache zum ersten Jahrestag des SUV-Unfalls in der Invalidenstraße am Boden.
Figuren, die die Opfer darstellen, liegen bei der Mahnwache zum ersten Jahrestag des SUV-Unfalls in der Invalidenstraße am Boden. dpa/Sommer

Die ärztlichen Risikobelehrungen seien zwar unzureichend und zum Teil nicht eindeutig gewesen, räumte der Staatsanwalt ein. Er sieht aber den Verkehrsteilnehmer in der Pflicht: „Bei der Vorgeschichte hätte er sich informieren müssen, ob er fahrtauglich ist.“

Der Rechtsmediziner sagt: „Der Arzt kann kein Fahrverbot aussprechen“

„Jeder Autofahrer muss vor Fahrtantritt prüfen, ob er in dieser Situation - oder auch dauerhaft - in der Lage ist, zu fahren“, erklärte Rechtsmediziner Thomas Riepert von der Universität Mainz. Sein Schwerpunkt ist die Verkehrsmedizin, die sich mit Erkrankungen und Behinderungen beschäftigt, die zu einer Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit führen. Bei dieser Beurteilung komme dem Hausarzt eine Schlüsselrolle zu, so Riepert. Dieser sei verpflichtet, auf die Problematik hinzuweisen.

Wichtig sei ein sorgfältiger Abwägungsprozess zwischen der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer und den Bedürfnissen des Patienten. „Das ist eine extrem bittere Angelegenheit für den betroffenen Menschen - gerade bei älteren Menschen, die nicht mehr so mobil sind.“

Nicht immer müsse es darum gehen, jemanden gar nicht mehr ans Steuer zu lassen. Richtlinien liefern die Fahrerlaubnisverordnung und Begutachtungsleitlinien, die das Bundesverkehrsministerium seit 1973 herausgibt. „Die Fahrerlaubnisverordnung sieht auch Beschränkungen oder Auflagen vor“, erklärte Riepert. So könne etwa älteren Menschen auferlegt werden, nur noch tagsüber in einem engen Radius mit dem Wagen unterwegs zu sein. Auch für Epilepsie-Patienten gibt es klare rechtliche Vorgaben und wichtige Hinweise.

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Angesichts der ernsten Situation empfiehlt Riepert Kolleginnen und Kollegen eine Dokumentation des Aufklärungsgesprächs, die über das allgemein gültige Maß hinausgeht: „Ich würde mir vom Patienten unterschreiben lassen, dass er aufgeklärt wurde.“ Wichtig sei aber die Einsicht des betroffenen Patienten. „Der Arzt kann kein Fahrverbot aussprechen“, betonte Riepert.

Im Fall des Berliner SUV-Fahrers sind die Nebenklage-Anwälte überzeugt, dass die Tragödie vermeidbar gewesen wäre: „Das macht den Schmerz besonders stark.“