Behandeln wie am Fließband

„Wir können nicht mehr!“ – Einzige Kinderarzt-Praxis in Neu-Hohenschönhausen ist völlig überlaufen

Dr. Steffen Lüder in Neu-Hohenschönhausen behandelt wie am Fließband, weil er dort der einzige Kinderarzt ist. Jetzt geht er in den Urlaub: Er, seine Mitarbeiterinnen und sein Budget sind erschöpft.

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Mach mal Aahhh! Dr. Steffen Lüder blickt in den Hals eines kleinen Patienten und macht vor, was der tun soll.
Mach mal Aahhh! Dr. Steffen Lüder blickt in den Hals eines kleinen Patienten und macht vor, was der tun soll.Sabine Gudath

Es ist Medizin wie am Fließband: Der Kinderarzt Dr. Steffen Lüder (56) sieht im 3-Minuten-Takt kranke Kinder. Seine Praxis im Ärztehaus Prerower Platz ist am Anschlag. „Wir können nicht mehr“, sagt der Mediziner, und deshalb sind er und seine drei Mitarbeiterinnen von Montag an für den Rest des Jahres im Urlaub.

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146 Patienten hat er am Montag binnen sieben Stunden gesehen, am Mittwochvormittag 80 in vier Stunden. Die ganz kleinen Patienten bis zu einem Jahr würden vielfach mit RS-Virusinfektionen vorgestellt, einer in diesem Alter gefährlichen Atemwegserkrankung. Die etwas Älteren leiden meist unter echter Grippe (Influenza).

Dr. Steffen Lüder hatte noch nie so viele Patienten wie jetzt

„So viele Patienten pro Tag waren es noch nie, seit ich mich 2008 hier niedergelassen habe“, sagt der Arzt und macht klar, dass die völlige Überlastung wenig mit den vielen Erkrankungen zu tun hat: Er ist der letzte verbliebene von sechs Kinderärzten, die es damals in Neu-Hohenschönhausen gab.

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Dr. Lüder lässt Baba Barry üben, wie er den Inhalator für seine Tochter halten soll.
Dr. Lüder lässt Baba Barry üben, wie er den Inhalator für seine Tochter halten soll.Sabine Gudath

Im Bereich der Postleitzahlen 13051, 13057 und 13059, den er betreut, seien 8000 Kinder gemeldet: „Eigentlich soll ein Kinderarzt oder eine Kinderärztin auf 2200 Kinder und Jugendlichen kommen, so die Planungsrichtlinie.“ Hatte er am Anfang seiner Zeit als niedergelassener Arzt 920 Kinder pro Quartal behandelt, seien es in den ersten beiden Monaten des letzten Quartals 2022 schon 1800.

Und so begleitet ihn ständig die Sorge, bei den Untersuchungen der Mädchen und Jungen etwas zu übersehen. Dazu komme der Unmut der Eltern, die verständlicherweise ihre eigenen Sprösslinge für kränker halten als die anderen und schneller an die Reihe kommen wollen. Oder der Unmut, dass der Arzt nicht sinnfreie Scheine für Schulen oder Kitas ausstellen möchte.

Noch ein kurzes Gespräch von Arzt und Patient, der unter den Augen der Mutter auf dem Stuhl herumturnt, Mitarbeiterin Esther Körner hat schon alles in den Rechner getippt, und sofort kommt das nächste kranke Kind.
Noch ein kurzes Gespräch von Arzt und Patient, der unter den Augen der Mutter auf dem Stuhl herumturnt, Mitarbeiterin Esther Körner hat schon alles in den Rechner getippt, und sofort kommt das nächste kranke Kind.Sabine Gudath

Den Stress baut der gebürtige Treuenbrietzener mit Sport ab: Am Montag hat er abends in der Schwimmhalle 2500 Meter hinter sich gebracht, morgens und abends rennt er 40 Minuten zur Arbeit beziehungsweise zurück.

Budget für die letzten drei Monate des Jahres nach zwei Monaten erschöpft

Die Knochenarbeit ist nicht der einzige Grund für Dr. Lüder, in den Urlaub zu gehen und die Eltern auf einen Kollegen zu verweisen. Es geht auch um das ärztliche Honorar. Am Freitag ist sein Budget erschöpft, das er für das vierte Quartal hat und für die Behandlung kranker Patienten von den Kassen bezahlt wird. Er würde danach mit deutlichen Abschlägen arbeiten.

Na, war's schlimm? Nach der überstandenen Untersuchung gibt's Gummibärchen von Dr. Steffen Lüder.
Na, war's schlimm? Nach der überstandenen Untersuchung gibt's Gummibärchen von Dr. Steffen Lüder.Sabine Gudath

Dr. Lüder: „Im ersten Quartal 2022 habe ich Arbeit im Wert von 14.000 Euro nicht bezahlt bekommen.“ Nehme er neue Patienten nach Überschreitung des Budgets an, würden nur noch 15 Prozent der Leistung von den Kassen finanziert. „Dann würde ich gewissermaßen für die Behandlung von gut sechs Patienten nur eine bezahlt bekommen.“

Die Kosten steigen, aber das Honorar soll es nicht tun

Die Kosten aber laufen weiter, die Preise für medizinisches Material, für Heizung und Strom würden steigen, und die drei Mitarbeiterinnen wollen ihr Gehalt. Die Krankenkassen hätten angesichts dieser Situation für 2024 diese Erhöhung der Honorare angekündigt: „Null Prozent.“

Für 2023 wurde gegen den Widerstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ein mickriges Plus von 2 Prozent im sogenannten „Erweiterten Bewertungsausschuss“ festgelegt, in Berlin sind die Verhandlungen zwischen KV und Kassen noch nicht abgeschlossen.

Jana Lansch nimmt Eltern und Kinder in der Praxis von Kinderarzt Dr. Steffen Lüder in Empfang. Lächelnd, trotz ständigen Andrangs.
Jana Lansch nimmt Eltern und Kinder in der Praxis von Kinderarzt Dr. Steffen Lüder in Empfang. Lächelnd, trotz ständigen Andrangs.Sabine Gudath

Berlinweit, so sagt der Kinderarzt, hätten alle Berliner Kollegen im ersten Quartal 2022 nur 82 Prozent ihrer Leistungen bezahlt bekommen.

Von sechs Kinderärzten in Neu-Hohenschönhausen 2008 ist nur noch einer da

Die Kassenärztliche Vereinigung hat jetzt einen Kinderarztsitz für die Gegend ausgeschrieben. Aber selbst, wenn sich ein Mediziner findet, der ihn einnehmen will (Privatpatienten sind dort rar), gibt es ein weiteres Problem: Räume.

Wenn er an die Unterversorgung mit Kinderärzten in Neu-Hohenschönhausen denkt, lächelt Dr. Steffen Lüder nicht mehr.
Wenn er an die Unterversorgung mit Kinderärzten in Neu-Hohenschönhausen denkt, lächelt Dr. Steffen Lüder nicht mehr.Sabine Gudath

Einstmals saßen die Ärzte in Neu-Hohenschönhausen meist in Erdgeschosswohnungen mit 70 oder 80 Quadratmetern, sagt Dr. Lüder. Das ginge heute nicht mehr, 150 bis 180 Quadratmeter müssten es sein. Abgesehen davon, dass die Nutzung von Wohnungen für eine Arztpraxis unter das Zweckentfremdungsverbot fällt.

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin bestätigte die Raumnot und machte ein wenig Hoffnung, dass sich die Situation verbessern wird.

Der Landesausschuss für Ärzte und Krankenkassen habe beschlossen, statistisch 4,5 neue Kinderarzt-Sitze zuzulassen.  Da Berlin aber bei allen Arztgruppen (bis auf Hausärzte) seit 2003 als ein Planungsbereich gilt, sind die Arztsitze für ganz Berlin ausgeschrieben und nicht für einen Bezirk. Die KV Berlin würde „sehr begrüßen“, wenn sich in Neu-Hohenschönhausen eine Kinderärztin oder ein Kinderarzt niederlässt, kann das aber nicht vorgeben.

Wer sich als Kinderarzt in Lichtenberg niederlassen will, hat bessere Chancen

Es existiert jedoch eine Absichtserklärung von KV, Kassen und Senat, dass die rechnerischen Versorgungsgrade der zwölf Bezirke, die lediglich eine Orientierung darstellen, Möglichkeiten eröffnen: Wer sich nach Lichtenberg und speziell nach Hohenschönhausen bewirbt, hat bessere Chancen, sich dort niederlassen zu dürfen. 

Eine Unterversorgung mit Kinderärzten gibt es laut Kassenärztlicher Vereinigung in keinem Berliner Bezirk, dafür müssten es weniger als die Hälfte der laut Bedarfsplanung notwendigen Mediziner sein. Insgesamt ist Berlin danach mit statistisch 329,8 Kinderärzten zu 107 Prozent gut ausgestattet, das Soll liegt bei statisisch 308,1 Ärzten.

Doch die Unterschiede zwischen den Bezirken sind gewaltig: Steglitz-Zehlendorf hat einen Versorgungsgrad von 145,4 Prozent, weitere sechs Bezirke liegen über 100 Prozent. In fünf Bezirken jedoch sind es weniger: Marzahn-Hellersdorf verzeichnet 95,3 Prozent, Reinickendorf 90,3, Treptow-Köpenick 85,7, Spandau 85,4 und das Schlusslicht Lichtenberg mit Hohenschönhausen 82 Prozent.

Die Linke-Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch will wegen der Raummisere Verzicht üben. „Mich schreiben immer wieder verzweifelte Mütter an, die dringend einen Kinderarzt suchen. Ich habe die Mütter zu Dr. Lüder geschickt. Das hat sich herumgesprochen. Doch Dr. Lüder ist dauerhaft überlastet. Das geht so nicht weiter!“

Linke-Abgeordnete bietet ihr Wahlkreisbüro als Kinderarztpraxis an

Sollte sich ein Kinderarzt finden, dürfe es an den Räumlichkeiten nicht scheitern. Lötzsch: „Ich bin bereit, mein Wahlkreisbüro an einen Kinderarzt abzugeben. Vor vielen Jahren hatte ich mein Wahlkreisbüro in einer ehemaligen Kita an der Ahrenshooper Straße. Als dann wieder Kitaplätze gebraucht wurden, habe ich mein Wahlkreisbüro für die Kinder geräumt. Da habe ich nicht lange nachdenken müssen.“

Das Wahlkreisbüro in der Zingster Straße 12 hätte mit 136 Quadratmetern eine hinreichende Größe. Es war übrigens früher eine Arztpraxis.