Wie eine Stadträtin sieben Berliner arbeitslos macht – und dann zurückschreckt
Seit Jahrzehnten versorgt der Stand Anwohner, S-Bahn-Fahrgäste und Taxifahrer – rund um die Uhr

24 Stunden am Tag ist der Kiosk vor dem S-Bahnhof Lichterfelde-West geöffnet. Kaffee für 1,20 Euro, alle Berliner Zeitungen, Blätter aus aller Welt, Zeitschriften, Zigaretten, Getränke, Lotto: Wenn Not am Mann ist, findet man dort alles Lebensnotwendige. Damit soll spätestens Ende des Jahres Schluss sein. Knall auf Fall verweigert das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf in Verantwortung einer Grünen-Stadträtin die immer wieder gewährte Verlängerung der „Sondernutzung“ von Straßenland: Der Kiosk muss abgerissen werden. Der Betreiberfamilie wird die Existenzgrundlage unter den Füßen weggezogen. In letzter Minute schreckte die Stadträtin dann zurück.
Seit vielen Jahrzehnten steht der Kiosk an der Ecke Baseler/Hans-Sachs-Straße, seit 2007 betreiben ihn ihn Ugur Ciftli (41) und seine Frau Döndü (33), die seit 2015 als Eigentümerin fungiert. Der Mann ist stocksauer: Am 28. Oktober bekam seine Frau einen vom 20. Oktober datierten Brief, dass der Kiosk verschwinden müsse. „Es gab keinen Anruf vorher, keine Anfrage, nichts.“
Neben ihm arbeiten sechs Leute in dem Kiosk, unter anderem Steven (21), Ciftlis Sohn aus erster Ehe, der im Laden aushilft. Steven ist Lehrling, aber die anderen vier Kinder sind wie das Ehepaar völlig auf die Einnahmen des Kiosks angewiesen. Der Kleinste geht in die Kita, die Zwillings-Mädchen in die Grundschule, ein Sohn ist gerade aufs Gymnasium gekommen.

Ugur Ciftci weiß nicht, wie es weitergehen soll, falls sein Laden wirklich weg muss. „Sieben Leute werden arbeitslos, meine Familie wird zerstört.“ Man habe ein Darlehen wegen der Corona-Einbußen zu laufen, und keine Ahnung, wie die Familie damit klarkommen soll.
Ganz abgesehen davon, dass ein sozialer Treffpunkt wegfalle, ein Anlaufpunkt für Taxifahrer an der benachbarten Halte, die einzige Verkaufsstelle für BVG- und S-Bahn-Fahrkarten im weiten Umkreis, und ein sicherer Ort insbesondere für Mädchen und junge Frauen, die abends oder nachts aus der S-Bahn kommen.
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Ein Anwalt aus dem Kiez, der Kunde sei und den er gar nicht persönlich kenne, habe Widerspruch beim Bezirksamt eingelegt, auch Ciftci hat einen Anwalt beauftragt. Das ist Rainer Struß, und er erklärte dem KURIER, dass er vor das Verwaltungsgericht ziehen werde, um für die Erhaltung des Kiosks zu streiten. Die vom Amt gesetzte Frist sei viel zu kurz, und es sei noch gar nicht klar, was da wann gebaut werden soll. Nicht einmal im Haushalt des Bezirks tauche der Umbau auf. Verwundert ist Strauß, dass auch gerade errichtete Fahrradbügel wieder abmontiert und zwei alte Bäume gefällt werden sollen.

Das Bezirksamt begründet die Ablehnung der weiteren Nutzung damit, dass der Kiosk gemäß Mobilitäts- und Straßengesetz einer barrierearmen Querungsmöglichkeit für Behinderte der beiden Straßen im Weg sei. Das habe eine „Interessenabwägung“ ergeben. Deshalb sollen über die Baseler Straße und die Hans-Sachs-Straße asphaltierte Überwege geschaffen werden. Alles geht offenbar auf eine Petition eines einzelnen Bürgers zurück.

Sollten die Ciftcis nicht folgsam „fachgerecht“ abreißen, um den Straßenumbau zu ermöglichen, droht das Straßen- und Grünflächenamt, das der grünen Stadträtin Maren Schellenberg untersteht, schon mal mit der Einziehung von 3000 Euro Sicherheitsleistung für eine „Ersatzvornahme“ an, um das Straßenpflaster wieder herzustellen. Das Geld hatten die Betreiber bei Übernahme des Kiosks zahlen müssen.
Die Eile begründet das Straßen- und Grünflächenamt damit, dass „umgehend“ eine „gefahrlose Querungsmöglichkeit für mobilitätseingeschränkte Personen“ geschaffen werden müsse. Wenn Ciftlis Widerspruch einlegen, habe das keine aufschiebende Wirkung. Um sie zu erlangen, müssten sie das Verwaltungsgericht bemühen. Wie das alles binnen zwei Monaten zu bewerkstelligen sein soll, ist Ugur Ciftli ein Rätsel.
Er hat inzwischen mit der Noch-Bürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) gesprochen, die habe ihn wenigstens angehört. Außerdem übergab er zunächst 2000 Unterschriften, mit denen sich Lichterfelder für die Erhaltung des Kiosks ausgesprochen haben. Die Unterschriftenaktion läuft aber weiter, inzwischen sind 4000 Unterschriften gesammelt.

In einem Schreiben an den Berliner KURIER gestand Schellenberg jetzt ein, dass es noch gar keine genauen Planungen gebe, deshalb werde die Sondernutzung für ein weiteres Jahr verlängert. Dann wäre Zeit, die Angelegenheit in der BVV und mit den Bürgern zu besprechen, was bislang nicht vorgesehen war. Allerdings müssten nicht genehmigte Anbauten des Kiosks entfernt werden, was Ciftli wiederum erzürnt: Das sei längst erledigt.
Der Grund für die Kehrtwende dürfte zunächst der öffentliche Druck sein. Im Bezirk wird aber auch gemutmaßt, dass Schellenberg fürchtete, bei ihrer anstehenden Wahl zur Bürgermeisterin wegen des Vorgehens gegen den Kiosk zu unterliegen.