1988 kam der Boss – und die großen DDR-Bands wollte keiner mehr hören. Aber trotz Anbiederung bei der Jugend war die DDR nicht mehr zu retten.
1988 kam der Boss – und die großen DDR-Bands wollte keiner mehr hören. Aber trotz Anbiederung bei der Jugend war die DDR nicht mehr zu retten. Foto: Herbert Schulze

Berlin - Die Frage, wie die West-Musik ins Ost-Radio kam, hat man sich in der DDR kaum gestellt, auch weil die wenigsten Bürger überhaupt Ost-Sender hörten. Dabei unternahm der Staat einiges, um junge Menschen zu den politisch gelenkten Sendern und Programmen zu locken – vornehmlich mit Hilfe von Musik und ab 1986 mit dem eigenen Sender Jugendradio DT64, benannt nach einem Programm zum Deutschlandtreffen von 1964. Zu diesem Thema ein Gespräch mit Wolfgang Martin, langjähriger Musikchef im Ost- wie im West-Rundfunk.

Herr Martin, die West-Musik fand ja auf abenteuerlichen und vor allem rechtlich zweifelhaften Wegen ins Ost-Radio, schreiben Sie. Jede Zeit hatte andere Wege. Wie fing es an? West-Musik sollte ja möglichst wenig gespielt werden und noch weniger kosten.

Die Anfänge liegen vor meiner Zeit und sind heute unvorstellbar: Der DDR-Rundfunk soll tatsächlich die Musik im Westradio mitgeschnitten und gesendet haben. Das änderte sich. Als ich in den 1970ern dort anfing, wurde die Musik von Schallplatten mehr oder weniger illegal auf Magnettonband umgeschnitten und so ein eigenes großes Archiv aufgebaut. Wir Mitarbeiter brachten unsere eigenen West-Platten dort ein, die uns Künstler geschenkt oder die wir sonstwie erstanden hatten.

Später fuhr Ihr Chef nach West-Berlin auf Shoppingtour – wie stellt man sich das vor? Wie hoch war sein Etat?

Das wurde vor Redakteuren natürlich geheim gehalten. Wir haben uns ausgerechnet, dass es 300 bis 400 DM monatlich gewesen sein müssen. Es kamen jeden Monat vielleicht 20 neue Platten ins Archiv, zu 20 bis 30 DM das Stück. Manchmal konnten wir uns Titel wünschen. Der Chef fuhr nach West-Berlin und kaufte dort etwa bei WOM ein, dem Plattenladen World of Music, nicht bei der Plattenfirma.

Ihr Kollege Jürgen Balitzki nahm mal von seinem Redaktionsleiter etliche Genesis-LPs in Empfang, die der Zoll beschlagnahmt hatte. Die Enkel, deren Omas die Platten angstvoll über die Grenze schmuggeln wollten, konnten dann allenfalls noch ein paar Titel ihrer Bestellungen bei DT64 hören.

Auch Platten, die ich mir schicken ließ, landeten grundsätzlich beim Zoll, sehr ärgerlich. Man bekam dann von dort Bescheid, die Platten seien zum Rundfunk geschickt worden – aber mir sind sie da nie begegnet, es war wohl viel Willkür im Spiel. Platten von den Stones und Udo Lindenberg wurden komplett eingezogen, die standen in den 1970ern auf dem Index, bis sich der politische Wind drehte. Meine Oma brachte mal „Children of the Revolution“ mit – schon wegen des Titels für den Rundfunk völlig unbrauchbar.

Vor Tantiemen, also Geld, das Künstlern für ihre Musik zusteht, hatte die DDR keinen Respekt. Von Lizenz-Schallplatten aus dem Westen ließ Amiga meist ein Vielfaches des vertraglich Vereinbarten pressen. Das Senden von West-Titeln regelte ein Pauschal-Vertrag mit der Gema, den bis heute keiner kennt – oder?

Der Vertrag ist nicht bekannt, stimmt, sehr geheimnisvoll. Offenbar war die Pauschale sehr vorteilhaft für die DDR. Roger Hodgson von Supertramp erzählte mir mal, dass von seiner Amiga-Platte 100.000 Stück verkauft wurden, statt die bezahlten 10.000. Gepresst hat Amiga, so viel die Kapazitäten hergaben.

Die 60/40-Regel, die Bands, DJs und dem Rundfunk das Spielen von 60 Prozent DDR-Musik vorschrieb, wurde 1958 nicht etwa zur Förderung von DDR-Komponisten erlassen, sondern aus Devisenmangel. Immerhin entstand dadurch eine eigene deutschsprachige Rock- und Popmusik – hatte die Regel also ihr Gutes?

Durchaus – ab Ende der 1960er-Jahre gründeten sich massenhaft Bands. Sie wurden vor allem vom Rundfunk gefördert und auch produziert – der brauchte die Musik dringend. Außerdem sollten Jugendliche als Radio-Hörer gewonnen werden, denn die hörten ja nur West-Sender. Das wusste man aus Meinungsumfragen, natürlich unveröffentlicht. Wir entwickelten dann auch eigene Musik- und Wertungssendungen – und die wurden tatsächlich gut angenommen.

Ich kenne kaum jemanden, der Ost-Sender mit ihrem politisch-optimistischen Grundton hörte, denn beim Radio gab es ja West-Alternativen. Kennen Sie Zahlen?

Zahlen bekamen wir nie, aber unheimlich viel Post, in Spitzenzeiten bis zu zehntausend Zuschriften in der Woche. Die meisten kamen natürlich aus den Süd-Bezirken Sachsen und Sachsen-Anhalt, wohin es die West-Sender nicht schafften.

Ende der 1980er hatte die Jugend abgeschlossen mit der DDR, ertrug selbst die einst geliebten eigenen Bands nicht mehr, ihnen haftete der Geruch von Establishment an. In Konzerten flogen sogar Tomaten. Und der Staat versuchte, sich anzubiedern beim Volk mit dem Einkauf von Weststars bis zu Dylan und Springsteen, alles ohne ein Wort der Erklärung für die kulturpolitische Kehrtwende. Ein Riesenkonflikt, warum thematisieren Sie den nicht?

Den Vorwurf muss ich mir gefallen lassen – ich war natürlich auch nicht im Widerstand. Ich schreibe, dass es mir am Ende zuwider war, mich um die West-Konzerte zu kümmern. Ich erzähle, wie eine Kollegin strafversetzt wurde, nur weil sie nach dem Sputnik-Verbot 1988 im Sender Anspielungen darauf unterbrachte, widme dem Renft-Verbot ein eigenes Kapitel. Da war ich neu beim Radio, 24 Jahre, ein Schock. Der folgende Künstler-Exodus schmerzte unheimlich.

Keiner von uns war im Widerstand, sonst hätte er nicht als Journalist gearbeitet. Aber die Konflikte spürte man – und ich lese ein Wohlfühlbuch. Es kommen zahllose tolle Kollegen vor, die sich für gute Musik und anständige Programme einsetzten. Aber wer hat sie gestoppt? Wie wurden das Renft-Verbot und der Biermann-Rausschmiss diskutiert? Wenn ein Künstler in den Westen ging, durften Sie seine Musik nicht mehr spielen. Stand nicht immer die Systemfrage mit im Raum?

Na gut, das wäre ein anderes Buch geworden. Und wir Musikredakteure standen da auch nicht an vorderster Front in den Diskussionen. Ich wollte keine politische Abrechnung, sondern Radiogeschichten erzählen aus dieser Zeit, ich habe ja die Musiker alle gekannt und interviewt.

Sie mussten mit Ihren West-Kontakten logischerweise für die Stasi interessant sein, haben sich auch zur Mitarbeit verpflichtet. Dennoch wurden Sie nie ein Denunziant, wie mir Musiker und Kollegen berichten. Warum verschweigt das die Biografie? Diese Zumutungen gehörten zu unserem Leben.

Die Geschichte ist so komplex und kompliziert, auch von einer gewissen Tragik begleitet, dass ich darauf verzichten wollte. Ich habe damals nichts verschwiegen, alles wurde endlos untersucht, sonst hätte mich ein öffentlich-rechtlicher Sender natürlich niemals eingestellt. Die Stasi-Hysterie in den 1990er-Jahren war nur schwer zu ertragen, dem wollte ich mich nicht aussetzen – zumal ich mich nicht schuldig fühlte, niemandem auf den Leib gerückt war.

Vom Tag des Mauerfalls an gewann DT64 unerhört an Selbstbewusstsein und Profil, bevor der Sender zwei Jahre später gnadenlos abgewickelt wurde wie das ganze Land. Hätte man mehr kämpfen müssen, damit ein Stück Identität bleibt, eine Musik-Ära weiter lebt?

Ich habe meine Kollegen so kämpferisch erlebt wie nie. Wir haben alles versucht, verschiedene Wege ausprobiert, es ging ja um unsere Existenz. Aber wir hatten keine Chance, kein Mitspracherecht, nichts. Es gab klare Abwicklungsaufträge aus der Politik. Am Ende orientierten sich auch die Kollegen neu, gingen ein auf Angebote von ORB, SFB, MDR oder NDR. Und ich wollte mit knapp 40 auch kein Berufsjugendlicher werden. Ich brachte nach Arbeitstagen von 14, 15 Stunden oft Wut oder Tränen mit nach Hause, unsere Kraft reichte nicht. Das war die größte Enttäuschung in meinem Berufsleben: Mit welcher Chuzpe gegen uns vorgegangen wurde. Hörer protestierten in Dresden und Rostock,  Musiker aus Ost und West haben sich für den Sender eingesetzt, Grönemeyer, Niedecken, Bowie. Aber die Interessen von Hörern oder Redakteuren interessierten nicht, spielten überhaupt keine Rolle.