„Wenn die Radar-Antenne auf dem Tower stillsteht, wird Berlin etwas fehlen“
Als Jugendlicher freundete er sich in Tegel mit Flugkapitänen an, später war er selber einer. Heute ärgert sich Thomas Kärger darüber, dass der Flughafen schließt.

Thomas Kärger kann es nicht lassen. Auch wenn er schon seit einigen Jahren keine Linienflugzeuge mehr nach Tegel steuert, kehrt er trotzdem immer wieder dorthin zurück. Mit einer kleinen Maschine flog er vom Flugplatz Bienenfarm im Havelland nach TXL, um ein paar Platzrunden zu drehen. Sein letzter Flug nach Tegel im November, wenige Tage bevor der Flughafen endgültig geschlossen wird, ist schon in der Planung. „Kurz aussteigen, ein Erinnerungsfoto vor dem Tower, wieder zurück“, so stellt sich Kärger den Abschied vor. Noch einmal in Tegel landen. Noch einmal auf dem Vorfeld stehen. Noch einmal in Tegel starten. „Aus einem emotionalen Grund.“ Abschied nehmen von dem Flughafen, der einen großen Teil seines Lebens einnimmt.
Diesmal ist der 59 Jahre alte Berliner mit dem Auto gekommen, aus Adlershof, wo er wohnt. Er möchte erklären, woher die Emotionen kommen. Thomas Kärger steht vor dem Terminal C, wo einst vor allem Passagiere von Air Berlin eincheckten. Bei der Berliner Fluggesellschaft war er rund neun Jahre tätig, bis sie 2017 Pleite ging. „Morgens von Tegel nach New York, abends zurück, zwei Tage frei.“ Dann wieder über den Atlantik. So sah sein Berufsleben als Flugkapitän aus. „Diese Zeiten waren gut. Sie werden nicht wiederkommen.“
Wie bei so vielen Flugbegeisterten sprang das Virus auf ihn über, als er noch ein Kind war. Gleich beim ersten Mal zeigte sich, dass der Sound dabei eine Rolle spielte. „Mein erster Flug führte 1966 von Berlin nach Hannover, mit einer Vickers Viscount ab Tempelhof. Eines der schönsten Flugzeuge, das ich kenne. Mit großen Fenstern und Triebwerken, die ein hohes heulendes Geräusch von sich gaben.“ Sein Interesse war geweckt. Nach der Schule stieg Kärger in den 24er-Bus und fuhr von Moabit nach Tempelhof. Flugzeuge anschauen, Flugverkehr erleben, Flieger kennenlernen.
Air France mit der Caravelle hatte den schönsten Sound. Er würde jeden ohnmächtig machen, der im Anflug wohnt. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass ein Flugzeug so laut sein kann.“
Pilot Thomas Kärger
Manchmal führten die Nachmittagstouren in die andere Richtung, nach Tegel-Nord. „Da starteten Airlines wie Modern Air, Dan-Air, Laker Airways, außerdem die Air France mit der Caravelle. Die hatte den schönsten Sound. Er würde jeden ohnmächtig machen, der im Anflug wohnt. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass ein Flugzeug so laut sein kann.“
Im November 1974 ging in Tegel-Süd der heutige Flughafen ans Netz. Dort wurde es richtig interessant. „Ich lernte Leute von der Verkehrsleitung kennen“, erzählt Kärger. „Sie gaben mir einen kleinen gelben Sticker, und dann konnte ich den ganzen Tag auf dem Vorfeld herumlaufen. Was einer eben macht, der Pilot werden will. Ich durfte fotografieren, in den Flugzeugen sitzen, und ich hatte mehrere Pan-Am-Piloten als Bekannte, die mich ins Cockpit mitgenommen haben.“ Als 15-Jähriger übers Vorfeld stromern – „heute wäre so etwas unvorstellbar“.
Der schicke neue West-Berliner Flughafen war gerade erst eröffnet, da checkte die Familie Kärger dort ein. „Wir flogen mit Modern Air nach Girona in Spanien. Mit der Convair 990, auch ein Traumflugzeug, eines der schnellsten Flugzeuge der Welt. In zwei Stunden und zehn Minuten waren wir am Ziel.“ Ein schnittiger Jet. „Doch er soff wie ein alter Daimler.“ Kärger erinnert sich sogar noch an den Flugkapitän der amerikanischen Fluggesellschaft, der sie damals in den Urlaub brachte. „Er hieß Captain Dodge und sah aus wie Charles Bronson.“
Das moderne TXL beeindruckte ihn schon als Jugendlichen, sagt Thomas Kärger. „Das war Wahnsinn, allein schon die Größe der Anlage.“ Bereits damals war ihm klar: „Der Flughafen ist architektonisch einmalig. Die Fluggäste steigen aus dem Flugzeug, gehen 20 Schritte, und schon sind sie im Taxi. Das gibt es sonst nirgendwo. Und dann der Style der 70er-Jahre. Tegel ist Retro. Die Architekten können heute noch stolz auf ihr Werk sein.“
Damals gab es nur das Sechseck, das die damals noch jungen Architekten Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg mit Klaus Nickels entworfen hatten, das heutige Terminal A. „Drumherum war alles noch Wiese.“ Ende 1974 war in Tegel ähnlich wenig los wie Anfang Juni 2020 unter Corona-Bedingungen. Doch allmählich wurde es voll in TXL.
Allerdings stoppte der rot-grüne Senat unter Walter Momper (SPD) 1989 Pläne, nun endlich das zweite Sechseck zu bauen. „Hätte man damals den Mut dazu gehabt, wäre es heute längst abgezahlt und hätte zum Gewinn beigetragen. Tegel ist eine Goldgrube.“ Allein im vergangenen Jahr erzielte die Berliner Flughafen-Gesellschaft, die TXL betreibt, fast 131 Millionen Euro Überschuss.
Lob für Hartmut Mehdorn
„In Berlin hat man noch nie auf die Zukunft gebaut, sondern immer nur auf die Gegenwart reagiert. Das muss man dem Senat bis heute vorwerfen“, sagt Kärger. „Deshalb sind wir zurückgefallen in der Welt.“ Stattdessen „Flickschusterei“. Niemand habe sich richtig um den Flugverkehr gekümmert, obwohl er für Berlin so wichtig ist. Auch den jetzigen Politikern kann Thomas Kärger wenig abgewinnen. Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, sei in Sachen Flughäfen ein „Lehrling“. Flughafenchefs wie Rainer Schwarz waren „keine Visionäre, sondern Reaktionäre“ – Menschen, die bestenfalls auf eine Situation reagieren, aber nicht vorausdenken. Engelbert Lütke Daldrup, der die Berliner Flughäfen seit 2017 leitet, komme ihm „eiskalt“ vor. „Hartmut Mehdorn war der einzige, der Ahnung hatte.“ Er flog ihn mit einer Cessna von Tegel nach Hannover, wo Ex-Kanzler Gerhard Schröder Geburtstag feierte.
Dass Tegel vernachlässigt wurde, hat Thomas Kärger geschmerzt. Investitionen unterblieben, weil der BER ja ganz sicher bald fertig werde. Dabei erreichten die Passagierzahlen fast in jedem Jahr neue Rekorde. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 24 Millionen, knapp doppelt so viele wie in Köln/Bonn und Stuttgart. „Tegel war stark belastet.“ Die Abstellpositionen reichten nicht, der Raum zum Rangieren ist knapp, im Winter mussten die Flugzeuge vor den Enteisungsplätzen Schlange stehen. „Glücklicherweise arbeiten hier Menschen, die sich engagieren und eine persönliche Bindung zu dem Flughafen entwickelt haben.“ Das gleiche bis heute manches Manko aus. Es hätte ihn aber nicht gewundert, wenn es zu einem Unfall gekommen wäre. „Das war nur noch eine Frage der Zeit.“
Was hätte aus Tegel werden können? Ein kleiner, aber feiner City-Airport, wie London ihn hat. „Mit Verbindungen zu europäischen Top-Zielen wie London, Paris, Kopenhagen, Zürich. Täglich 50 bis 70 Verbindungen, 3,3 Millionen Gäste pro Jahr.“ Tegel gehöre zu dieser Stadt, sagt Thomas Kärger. „Tegel ist Berlin! Ähnlich wie Tempelhof ist TXL Symbol für den freien Zugang zu einer damals eingemauerten Stadt. Die Berliner sehen ihn als ihren Flughafen, der exklusiv für diese Funktion gebaut wurde.“ Aber was ist mit den Anwohnern, die über Lärm klagen? Der Flughafen sei seit vielen Jahrzehnten in Betrieb, entgegnet Kärger. „Da kann man nicht sagen: Ich wohne seit 20 Jahren hier, der Flughafen kann weg.“ Stattdessen müssten die Anwohner Konsequenzen ziehen. „Aber das traut sich keiner zu sagen.“
Als am Abend des 30. Oktober 2008 in Tempelhof zum letzten Mal Flugzeuge starteten, erlebte Kärger, wie dort Politiker ausgepfiffen wurden. So könnte es auch am 8. November 2020 in Tegel sein. „Da sind viele Emotionen im Spiel.“ Die farbigen Zukunftsvisionen für ein Tegel ohne Luftverkehr, mit denen die Tegel Projekt GmbH wirbt, ärgern Thomas Kärger. Gärten zwischen den Pisten, Rollbahnen als Spazierwege: „Das wollen die Berliner nicht. Sie wollen, dass hier weiterhin Flugzeuge starten, dass sich weiterhin die Radar-Antenne auf dem Tower dreht. Wenn sie stillsteht, wird Berlin etwas fehlen.“