Fotoreportage aus Niemandsland und Musterdorf

Leben nach der DDR: „Heute muss man um alles kämpfen. Aber ich bin kein Kämpfer“

Eine Ausstellung im Museum in der Kulturbrauerei erzählt von Hoffnungen und Ängsten nach dem Mauerfall und vom Leben mit der DDR – auch nach ihrem Ende

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„Es gab keine Autos, nur Pferde und Kutschen. Aber die Leute waren freier, hat mein Opa gesagt. Und alles war billiger“, sagt Kevin (17) über die DDR. 
„Es gab keine Autos, nur Pferde und Kutschen. Aber die Leute waren freier, hat mein Opa gesagt. Und alles war billiger“, sagt Kevin (17) über die DDR. Bettina Flitner

Wochenlang durchstreift die Fotografin Bettina Flitner 1990 den Grenzstreifen in Berlin. Die Mauer, das sind auf einmal große Schutthaufen, die da in der Gegend aufragen. Es ist völlig normal, dass Menschen mit Hämmern Stücke aus dem Beton der Monolithe klopfen und sie in Tüten nach Hause tragen. Wobei, was ist schon normal in Berlin im Jahr 1990? „Was fühlen Sie jetzt?“, fragt die Fotografin die Menschen aus Ost und West in diesem einmaligen Moment der Geschichte. Ihre Hoffnungen, aber auch ihre Ängste hält sie in Wort und Bild fest.

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„Was ist die DDR für dich?“

Fast 25 Jahre später geht Bettina Flitner im ehemaligen sozialistischen Musterdorf Mestlin im Landkreis Parchim erneut auf Spurensuche. „Was ist die DDR für dich?“, fragt sie diesmal. Die so entstandenen beiden Fotoessays werden derzeit im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin gezeigt.

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Die Auseinandersetzung mit der untergegangenen, abgewickelten, überrannten, manchmal verklärten und manchmal verdammten DDR ist brandaktuell. Nicht nur der Blick in die Vergangenheit in der Umbruchphase 1990, sondern auch der Blick zurück aus dem Jahr 2014 sind vielschichtig. „Endlich hört mal einer zu“, hat ein Besucher ins Gästebuch der Ausstellung geschrieben, die kostenlos gezeigt wird.

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„Na klar, das wird jetzt erst mal hart für uns. Aber da müssen die Deutschen jetzt eben alle zusammenhalten.“ Eine Familie aus der DDR im Grenzstreifen in Berlin. 
„Na klar, das wird jetzt erst mal hart für uns. Aber da müssen die Deutschen jetzt eben alle zusammenhalten.“ Eine Familie aus der DDR im Grenzstreifen in Berlin. Bettina Flitner

Der Umbruch und das Neue, das 1990 überall ist, werden in den Äußerungen der Porträtierten sichtbar. Eine Mutter sucht ihren kleinen Sohn, er sei wohl in den Westen abgehauen, scherzt sie. Mit Humor das Unfassbare fassen, das ist eine Strategie, dem Neuen zu begegnen. Aber die Menschen sprechen auch offen über ihre Ängste. Wird hier bald massenhaft Arbeitslosigkeit herrschen? Wird sich die ältere Dame ihre Lebensmittel noch leisten können? Ein Pfarrer steht vor den Mauerresten und spricht über die Menschen in der DDR, die dächten: „Ich bin nichts, ich kann nichts.“ Und trotzdem müsse man Gott danken. 

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Die Jungen suchen nach Abenteuer im Zwischenreich der Staaten, Langeweile im Auge des Sturms? Und dann das Erstaunen: die Eisenbahn, der Wald. Die Geräusche hier wie dort sind ja doch die gleichen. Wo die einen Annäherung wagen, weigern sich andere. 

„Uns fotografieren? Klar, warum nicht. Hier ist ja sowieso nix los.“ Jugendliche im Niemandsland zwischen DDR und BRD. 
„Uns fotografieren? Klar, warum nicht. Hier ist ja sowieso nix los.“ Jugendliche im Niemandsland zwischen DDR und BRD. Bettina Flitner

Ein älteres Ehepaar aus Kreuzberg wagt sich nur bis zur ehemaligen Grenze. „Wir waren noch nie drüben“, sagen sie. „Da gehen wir auch jetzt nicht hin. Was sollen wir da?“

Die Freiheit der Ostler

Diese Freiheit, einfach weiter zu leben wie bisher, die hatten die Menschen im Osten nicht. Und so zeigt sich in der zweiten Reportage von 2014 im Musterdorf Mestlin ein oft ernüchterter Blick auf die bisherigen Jahre als Bewohner der neuen Bundesländer. Der Blick noch weiter zurück in die Vergangenheit der DDR ist nicht selten geprägt von einem gewissen Sehnen. 2014, als Bettina Flitner das Dorf Mestlin besucht, sind von den einst 1700 Einwohnern nur noch 700 übrig geblieben.

Mestlin sollte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Musterdorf entwickelt werden. Im Zentrum des Ortes wurde ein modernes Kulturhaus errichtet. Inzwischen ist man dabei, das Kulturzentrum zu sanieren und wieder zu beleben. 
Mestlin sollte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Musterdorf entwickelt werden. Im Zentrum des Ortes wurde ein modernes Kulturhaus errichtet. Inzwischen ist man dabei, das Kulturzentrum zu sanieren und wieder zu beleben. IMAGO/BildFunkMV

Das DDR-Musterdorf Mestlin

In den 1950er-Jahren wurde das Dorf als ein einzigartiges Projekt der SED-Spitze geplant und gebaut. Ein Musterdorf mit allem Komfort auf dem Land, die DDR wollte hier zeigen, was sie konnte. Ein Kulturhaus wurde gebaut, Krippe, Kindergarten, Konsum, ein Landambulatorium. Im Kulturhaus spielten die Großen des DDR-Musikbusiness, im Konsum gab es keine Mangelwirtschaft. 

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Doch nach der Wende war es aus mit dem Landtraum der DDR, die Gebäude verfielen, Einwohner zogen gen Westen, gen Arbeit. Doch was sagen die Dagebliebenen über die DDR ein Vierteljahrhundert nach deren Ende? Die meisten Jungen wissen wenig, das ist erschreckend. Der Blick der Älteren offenbart die Brüche im Leben von Ostdeutschen. Der Kapitalismus sei so, wie man ihn in der Schule gelernt habe, sagt einer. „Freiheit ist immer nur so viel wert, wie man Geld auf dem Konto hat“, sagt die Leiterin der LPG.

„Wir hatten keinen Strom, ich hatte immer schwarze Nasenlöcher von der Petroleumlampe. Aber es war trotzdem eine schöne Zeit“, sagt Ursula.
„Wir hatten keinen Strom, ich hatte immer schwarze Nasenlöcher von der Petroleumlampe. Aber es war trotzdem eine schöne Zeit“, sagt Ursula.Bettina Flitner

Es ist bezeichnend, dass nach der Wende ein Westler eine Großraumdisko im Saal des Kulturhauses eröffnete. Er kippte Sand auf das Parkett, übertünchte die Fresken an der Wand und machte einen Reibach. Als kolonialistisch empfinden manche den damaligen Umgang mit der Ex-DDR.

„Die Stimmen der Menschen füllen eine Lücke im öffentlichen Diskurs“, so lautet ein weiterer Eintrag im Gästebuch. „Wir sollten uns gegenseitig wieder mehr und aufmerksamer zuhören.“

„Heute muss man um alles kämpfen“, sagt der Schlosser aus Mestlin. „Aber ich bin kein Kämpfer.“
„Heute muss man um alles kämpfen“, sagt der Schlosser aus Mestlin. „Aber ich bin kein Kämpfer.“Museum in der Kulturbrauerei

„Niemandsland und Musterdorf. Fotoreportagen von Bettina Flitner 1990/2014“ 7. Juni 2023 bis 14. Januar 2024, Di–Fr 9–18 Uhr; Sa, So, Feiertage 10–18 Uhr, Eintritt frei, Museum in der Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, 10435 Berlin