Fahrradfahrer fahren auf dem neuen autofreien Abschnitt der Friedrichsstraße.
Fahrradfahrer fahren auf dem neuen autofreien Abschnitt der Friedrichsstraße. Foto: Fabian Sommer/dpa

Wer hätte gedacht, dass fünf Dutzend Bäume in Kübeln, einige grob gezimmerte Sitzgelegenheiten und ein paar Vitrinen so unterschiedliche Meinungen hervorrufen können? Für die einen sind die Stadtmöbel, mit denen ein Abschnitt der Friedrichstraße in Mitte provisorisch zugestellt worden ist, Vorboten einer strahlenden Zukunft. Die anderen schmähen den Verkehrsversuch, der bis Ende Januar 2021 dauern soll, als „Verkehrsfluch“. Sie versprechen sich wenig bis gar nichts von dem schnell zusammengezimmerten Idyll, in das die einstige Verkehrsader verwandelt wurde. Zwischen den Fronten stehen diejenigen Berliner, in deren Leben die Friedrichstraße mit ihren Juwelierläden und Privatkliniken noch nie eine wesentliche Rolle gespielt hat. Sie fragen: Worum geht es hier eigentlich?

Nun, man muss schon sagen: um eine ganze Menge! Es geht um Utopie und Realität, um Wunsch und Wirklichkeit, um verfehlte Hoffnungen und um ebenso verfehltes Festhalten an Konventionen, die längst ins Wanken geraten sind. Das Thema lautet: Wem gehört die Stadt? Wem gehören Berlins Straßen? Es ist ein Sujet, das Berlin schon jetzt spaltet und künftig noch tiefer spalten wird.

Zwei scheinbar gegenläufige Entwicklungen trennen die Welten. Auf der einen Seite stehen die Verfechter der Mobilitätswende. In dieser Sphäre sind es vor allem starke Worte, die das Bild beherrschen. Angeheizt wird die Debatte von einer kleinen radikalen Minderheit, die unablässig größer wird. Sie lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen, wenn es darum geht, möglichst harte Maßnahmen gegen Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotor zu ersinnen. Benziner und Diesel raus aus der Innenstadt? Na klar! Statt 10,20 künftig 500 Euro pro Jahr für eine Anwohnerparkvignette, sofern es sich um einen SUV handelt? Warum nicht!

Auf der anderen Seite steigt die Zahl der in Berlin zugelassenen Kraftfahrzeuge immer weiter an. Immer noch bringt eine Flut von Elterntaxis Berliner Schüler allmorgendlich in Gefahr, immer noch jagen Tausende Lieferfahrzeuge über die Straßen, um Internetbestellungen an den Mann und die Frau zu bringen. Immer noch stehen Pendler auf Ausfallstraßen im Stau, obwohl S- und U-Bahnen parallel verkehren. Egal, was die Verfechter der Mobilitätswende sagen: Die Zahl der rollenden Stahlkisten nimmt einfach nicht ab – als wären die autoseligen 1970er-Jahre noch im Gange. Es scheint wie bei der Bundesliga mit Bayern München zu sein: Am Ende gewinnt immer das Auto.

Man könnte formal argumentieren: Egal, welche Utopie sich Grünen-Politiker wünschen – derzeit ist es das gute Recht jedes Kraftfahrers, sein Vehikel zu nutzen. Gründe gibt es viele. Wer keine Lust auf die BVG hat, wer angesichts der täglichen Routine keine Alternative sieht, wer sich als alter Mensch nicht mehr fit für das Fahrrad fühlt, wer seiner Persönlichkeit mit einem möglichst bedrohlichen Blech-Glas-Konstrukt aufhelfen will, darf in diesem Rechtssystem Auto fahren. Ob das Unsinn ist angesichts von guten Bahnverbindungen oder gefährlich fürs Klima, spielt aus dieser Perspektive keine Rolle.

Dass Berlin zumindest im Vergleich zu anderen Metropolen allen Unkenrufen zum Trotz weiterhin keine autofeindliche Stadt ist, erleichtert die Entscheidung fürs Kraftfahrzeug. Niemand spricht mehr von den Dieselfahrverboten, die Autoverfechter einst als Untergang des Abendlandes brandmarkten. Das ist auch kein Wunder, denn die kurzen Sperrabschnitte fallen kaum ins Gewicht. Die wenigen Pop-up-Bikelanes, die zudem fast nur in Friedrichshain-Kreuzberg entstanden sind, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die allermeisten Autoschneisen breit geblieben sind. Im Westen der Stadt und in allen Außenbereichen Berlins changiert Radfahren weiterhin zwischen Hölle und Zumutung.