Von einem gelebten Miteinander in Berlin
Sie sind seit zwölf Jahren Nachbarinnen im Prenzlauer Berg: Majken Folden Rehder (49), zugezogen aus dem niedersächsischen Hildesheim, und Monika Krannig (75) aus Ostberlin könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein Gespräch über Grenzen, Wiedervereinigung, Nachbarschaftshilfe und Corona.

Sie sind seit 12 Jahren Nachbarinnen im Prenzlauer Berg: Majken Folden Rehder (49), zugezogen aus dem niedersächsischen Hildesheim, und Monika Krannig (75) aus Ostberlin könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein Gespräch über Grenzen, Wiedervereinigung, Nachbarschaftshilfe und Corona.
Manchmal bleiben erste Begegnungen haften. Es ist zwölf Jahre her. Majken Folden Rehder, damals 37, zieht in einen Altbau am Prenzlauer Berg. Sie ist alleinerziehend, hofft in dem Viertel, viele Eltern kennenzulernen. Die Kulturwissenschaftlerin aus dem niedersächsischen Hildesheim klingelt bei ihrer Nachbarin. Monika Krannig ist damals 63, trägt die grauen Haare kurz. Sie ist freundlich, legt aber mit einer Berliner Schnauze los: „Das ist schön, dass Sie nebenan wohnen, nur wundern Sie sich nicht: Wir haben eine Pappwand zwischen uns, wir hören alles.“
Das Mobiliar, der Schlumpf – das ist alles noch aus Ostzeiten.
Monika Krannig
Monika Krannig lächelt, als ihre Nachbarin das erzählt: „Das musste ich ihr doch sagen.“ Zu DDR-Zeiten hätten sie und Mann Heinz sich immer leise verhalten. „Der damalige Nachbar hat uns angeschwärzt, weil wir Westfernsehen geschaut und Rias gehört haben.“
Wir treffen uns bei Monika Krannig in der Wohnung. Sie wohnt seit 1968 in dem Haus, verändert hat die ehemalige Krankenschwester nichts. Im Flur stehen hellbraune Kommoden, eine Schrankwand-Garderobe mit Schubladen. Im Wohnzimmer sind in DVD-Ständern alle Folgen der Olsenbande ordentlich gestapelt. Auf dem Sofa liegt eine orangefarbene Wolldecke, ein gehäkeltes Kissen in Braun- und Orangetönen. Und dann ist da noch ein Plüschtier-Schlumpf. Monika Krannig trägt Geschirr und einen Pflaumenkuchen, den sie gebacken hat, in die Stube. Sie grinst: „Das Mobiliar, der Schlumpf – das ist alles noch aus Ostzeiten. Nur das Sofa nicht.“ Vor zwei Jahren kaufte sie sich eine neue Musikanlage. Ganz modern – mit CD-Player und USB-Stick – aber auf alt getrimmt. „Sie muss doch in meine Wohnung passen.“

Majken Folden Rehder hat vor drei Jahren die neue Couch mit ausgesucht. Sie steht in der Küche, wartet darauf, dass der Filterkaffee durchgelaufen ist. Die zwei sind seit 2008, seit jener kurzen Begegnung an der Tür, beste Nachbarn, helfen sich gegenseitig, trösten und bauen sich gegenseitig auf. Majken Folden Rehder: „Wir können uns immer aufeinander verlassen, mein Sohn ist oft bei Monika gewesen, als er ganz klein war.“ Monika Krannig antwortet: „Und du hast meinen Mann mitversorgt. Als er so krank war, hast du Bier geholt.“ Heinz Krannig erlitt drei Schlaganfälle, ist vor zwei Jahren gestorben. Majken Folden Rehder: „Du hast dich rund um die Uhr um ihn gekümmert, das fand ich beachtlich.“ Ihre Nachbarin nickt: „Das war für mich selbstverständlich, ich habe als Krankenschwester so viele Menschen gepflegt – ihm konnte ich das doch nicht verweigern.“ Beiläufig erwähnt sie, dass sie selbst schwer an Krebs erkrankt gewesen war.
Da sind uns die Wessis hinterher, bei uns waren Frauen viel fortschrittlicher.
Monika Krannig
Die 75-Jährige lädt uns Pflaumenkuchen auf die Teller, gießt den Kaffee ein. 84 Quadratmeter ist ihre Wohnung groß. Die von Majken Folden Rehder misst 62. Die 49-Jährige ist skandinavisch eingerichtet. Sie lächelt: „Wir sind ganz unterschiedlich aufgewachsen, trotzdem war da von Anfang an etwas. Uns eint der weltoffene Blick auf alles, unsere Menschenkenntnis und dass wir unvoreingenommen sind. Wir sind beide einfach aufeinander zugegangen und haben mit ganz viel gegenseitigem Verständnis, Interesse und Freude am gegenseitigen Helfen ein für Berliner Verhältnisse ungewöhnliches Modell entstehen lassen.“
Majken Folden Rehder ist in Schweden geboren, ihre Mutter ist Dänin. Als sie drei Jahre alt ist, ziehen sie nach Hildesheim. „Meine Mutter wunderte sich, wie rückständig Deutschland in Sachen Emanzipation ist“, sagt sie. Monika Krannig nickt: „Da sind uns die Wessis hinterher, bei uns waren Frauen viel fortschrittlicher.“
Dann erzählt Majken Folden Rehder von ihrer Kindheit, Jugend, dem Erwachsenwerden. Als sie in der Oberstufe ist, engagiert sie sich für den Umweltschutz und das Klima, studiert angewandte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim – und zieht Mitte der 90er Jahre nach Berlin. „Ich war angezogen von der Stadt, die zum Experimentierfeld für Kreative wurde. Ich habe gedacht, dort passiert was, hier kann man Geschichte live erleben.“ Anfangs zieht sie von einem illegalen Club zum nächsten. Genießt beide Teile der Stadt, die damals unterschiedlicher nicht sein können. Sie arbeitet viele Jahre als Leiterin des Trickfilmbereichs des Künstlers und Filmemachers Wenzel Storch, schlägt sich seit mehr als 20 Jahren als „Berliner Klischee-Kreative“ durch, ist selbstständig tätig im Kultur- und Medienbereich. 2016 macht sie ein Aufbaustudium zur Lebenskundelehrerin (Humanistischer Verband Deutschlands), unterrichtet dieses Schulfach heute festangestellt an zwei Grundschulen und ist nebenher selbständig als Autorin. Außerdem arbeitet sie seit drei Jahren als Redakteurin für eine Kinderrechtsorganisation.
Für mich war die DDR lange weit weg.
Majken Folden Rehder
Monika Krannig nimmt einen Schluck Kaffee. „Ich bin ein Kind der DDR, hier geboren und auch nach dem Mauerfall hiergeblieben.“ Als sie im Oskar-Ziethen-Krankenhaus in Lichtenberg (heute Sana Klinikum) zur Welt kommt, im September 1945, ist der Krieg erst ein paar Monate vorbei. Berlin liegt in Schutt und Asche, ihre Mutter muss, als die Wehen einsetzen, Kilometer zu Fuß ins Krankenhaus gehen. „Sie war hart im Nehmen, das mussten damals alle sein.“
Monika Krannig wächst in Friedrichshain, in der Richard-Sorge-Straße, auf. Den Sommer verbringt die Familie in ihrem Schrebergarten in Lichtenberg. „Der war am Röderplatz, dort steht heute eine Schule“, sagt sie. 1961, als die Mauer gebaut wird, erlebt sie jene Tage dort. Die Gerüchte verbreiten sich schnell, dass was vor sich geht. „Ein Bekannter sollte sich um Mitternacht auf der Dienststelle bei der Stasi melden, er war LKW-Fahrer. Wir wussten, da passiert irgendetwas. Meine Mutter ist aus Vorsicht zur Nachbarin rüber, warnte sie, an der Grenze passiere was, weil ihr Mann in der DDR gesucht wurde.“ Außerdem erschien die Schrebergartenvorsitzende bei ihnen, „sie brachte uns in der DDR verbotene Groschenromane, wir sollten sie verstecken“.
Majken Folden Rehder nippt an ihrem Kaffee. „Für mich war die DDR lange weit weg. Ich habe mich erst 1987 in der Oberstufe mit dem Thema beschäftigt.“ Sie will damals die Welt verbessern.
Zu dieser Zeit arbeitet Monika Krannig weiterhin am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Lichtenberg. Sie ist seit mehr als 20 Jahren mit Heinz verheiratet, hat zwei Kinder. „Ich habe mich nie eingesperrt gefühlt, ich bin so aufgewachsen. Gut, wir wussten, dass wir ausgehorcht werden. Heinz' Mutter ist in den Westen geflüchtet und wir hatten die Stasi am Hals. Wenn ich mit meinem Mann etwas besprechen wollte, bin ich in eine Gaststätte, in der man uns nicht kannte.“ Später vermisst sie es, dass sie nicht reisen kann. „Als die Mauer fiel, war das das erste, auf das ich mich freute. Und auf den Kudamm. Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn zu Lebzeiten wiedersehe.“

Und sie wundert sich über Verwandte, die plötzlich abgetaucht sind. „Viele waren bei der Stasi.“ Sie und ihr Mann sind nicht mal in der SED. Als sie das erste Mal rüberfahren, sich in die Schlange fürs Begrüßungsgeld einreihen, steht vor ihnen ein Parteisekretär aus Rummelsburg. „Der hat sich schnell verdrückt, als er uns sah“, lacht sie. Ihr Mann arbeitete im Strafvollzug in Rummelsburg, nach der Wende in der JVA Tegel.
Kurz nach dem 9. November 1989 reist auch Majken Folden Rehder nach Berlin. Sie schießt Fotos an der Mauer. „Die Volkspolizisten standen dort rum wie Falschgeld, verloren im Machtvakuum“, erinnert sie sich. Später reist sie mehrere Monate durch die ehemalige DDR. Es entsteht gemeinsam mit Autorin Nicole Andries das Buch sowie die Ausstellung „Zäune und Zeitzeugen – Geschichten zur Alltagskultur der DDR“. Sie findet heraus, dass die Gartenzäune im Osten oft individuell gestaltet, quietschbunt und durchlässig sind. Ganz im Gegenteil zum Westen, wo Menschen ihre Häuser mitunter hinter Mauern und dicken Hecken verbarrikadieren. Die Autorin: „Man würde denken, dass es genau umgekehrt ist. Wir kamen zu dem Schluss, dass die Menschen im Osten vielleicht das Trauma des eingesperrten Seins überwinden wollten und die eigenen Zäune daher überwindbar waren.“
Ich glaube, dass nach der Wiedervereinigung einiges schief gelaufen ist.
Majken Folden Rehder
Monika Krannig mag keine Grenzen. Sie mochte sie schon zu DDR-Zeiten nicht. Mauern im Kopf erst recht nicht. Schon immer schafft sie sich kleine Fluchten, denkt oft an ihre Kindheit, wenn sie vor 1961-mal rüber durfte – an den Wannsee oder zum Kudamm. Sie mag die Abenteuerromane von Mark Twain und Jules Vernes. Heute sieht sie gerne schwedische Krimis à la Mankell. Gereist ist sie nach wie vor nicht. „Ich könnte aber, wenn ich wollte. Und das ist viel wert.“ Sagt es und lächelt. Nach dem Tod ihres Mannes besucht sie lieber donnerstags ein Pflegeheim, um einsame Menschen zu betreuen.
Hat sie sich jemals als Bürger zweiter Klasse gefühlt? Sie schüttelt entschieden mit dem Kopf: „Nein, ich bin als Berlinerin erzogen worden. Bei meiner Mutter gab es kein Ost oder West. Ich kann aber verstehen, dass manche sich so fühlen, weil sie nach der Wende vieles verloren haben.“
Majken Folden Rehder: „Ich glaube, dass nach der Wiedervereinigung einiges schief gelaufen ist. Dass viele Unternehmen von der Treuhand liquidiert wurden, und dass andere Errungenschaften nicht wertgeschätzt wurden. Es gab viele Wendeopfer. Andererseits ist auch sehr viel für die Menschen aus der DDR getan worden.“ Manchmal verstehe sie diese Unzufriedenheit nicht. „Ich auch nicht, niemand möchte die Mauer zurück“, so die 75-Jährige.

Gerade in der Corona-Krise beobachten beide eine Zunahme der Verärgerten und Frustrierten. Majken Folden Rehder: „Es ist verstörend – Menschen, die die Demokratie und Freiheit nicht als sehr große Errungenschaft schätzen. Ich finde es schade, dass es solch einen Demokratieverdruss gibt.“ Monika Krannig macht eine abwehrende Handbewegung: „Ach, die haben nur einen Vorwand gesucht, Corona kommt für viele zur rechten Zeit. Es ist beschämend. Und dann vergleichen manche die Proteste auch noch mit unseren Vor-Wende-Demonstrationen und unseren damaligen Forderungen, dass wir das Volk sind. Wir hatten keine freien Wahlen und durften nicht raus. Wir sollten zufrieden sei, dass wir keinen Krieg haben.“
Ich habe eine noch nicht veröffentlichte Kindergeschichte geschrieben, die Monika und meinem Sohn gewidmet ist und die das Thema behandelt: wie aus der Not neue Netzwerke entstehen.
Majken Folden Rehder
Die Kaffeekanne ist inzwischen leer, der Pflaumenkuchen gegessen. Nachher verrät uns Majken Folden Rehder noch: „Ich habe eine noch nicht veröffentlichte Kindergeschichte geschrieben, die Monika und meinem Sohn gewidmet ist und die das Thema behandelt: wie aus der Not neue Netzwerke entstehen, die für das Miteinander einer diversen Gesellschaft förderlich sind. Wie zwischen meinem Sohn und Monika eine wertvolle Verbindung entstand.“ Ihr Sohn ist heute 15.