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Tangermünde – Perle der Altmark, Wiege Preußens
Tangermünde ist ein Gesamtkunstwerk, geprägt durch seine Lage an der Elbe. Ein Ausflug.

Wer aus Berlin oder einer anderen im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadt kommt, ist immer wieder überrascht, dass ein Ort uneingeschränkt schön sein kann. Wie aus einem Guss, wie aus einem Geschichtsbuch, eine Stadt wie Tangermünde. Schon von weitem ist diese Kleinstadt ein Versprechen. Von Berlin aus geht es Richtung Westen durch die endlos scheinenden Brandenburger Kiefernforste. Sie enden schlagartig. In dem sich ihnen anschließenden nördlichen Sachsen-Anhalt wird das Land baumlos und noch platter. Kurz vor der Elbe sind dann am Horizont die zwölf Türme und Kirchen der einst so mächtigen Kaiser- und Hansestadt Tangermünde zu sehen, der Perle der Altmark.

Heute geht es Tangermünde wie der Altmark: Beide stehen nicht im Fokus des Interesses. Zu Unrecht. In der Altmark – diesem wunderschönen und einsamen Landstrich westlich des Landes Brandenburg und nördlich der Magdeburger Börde – wurde nicht nur der Baumkuchen erfunden. Hier liegt eine der ältesten Kulturlandschaften Deutschlands, hier steht die Wiege Preußens.
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Tangermünde als Gesamtkunstwerk ist geprägt durch seine Lage an der Elbe. Um sich gleich so richtig überwältigen zu lassen, lohnt es sich, die Expedition in die Geschichte dieser Stadt am Hafen zu beginnen. Dort liegen viele Schiffe in der Winterruhe und ein mächtiges Speichergebäude dominiert das Bild. Sicher, so etwas gibt es in vielen Orten, nicht aber eine solch gewaltige Stadtmauer. Es ist sehr selten, dass eine bis zu zwölf Meter hohe Wehranlage tatsächlich noch fast vollständig erhalten ist. Sie umschließt die gesamte Kernstadt, hat vier Ecktürme und drei Tore.
Eine beeindruckende Mauer umgibt Tangermünde
Ein hohes Baugerüst steht etwa in der Mitte der Mauer der Elbseite. „Das Gerüst wandert quasi um die Stadt“, sagt Regine Schönberg. Bei dem fast zwei Kilometer langen Bauwerk müsse ständig etwas gemacht werden. „Unsere Maurer werden nie arbeitslos“, weiß die 61-Jährige. Seit 1994 ist sie Stadtführerin, und seit bald zwanzig Jahren gehört ihr die private Tourismusinformation. Kaum jemand kennt Tangermünde so gut wie sie.
Es geht die Treppen hinauf zur Stadt, die auf einer Hochebene thront. Von hier oben schaut der römisch-deutsche Kaiser Karl IV. über die Elbe. Es ist ein Denkmal für jenen Herrscher, durch den die Stadt zu ungeahnter Größe aufstieg, als er sie 1373 zu seinem Zweitsitz machte.
Ihre Geschichte begann allerdings mit den Askaniern, diesem aus dem Raum Aschersleben und Ballenstedt am Harz stammenden Adelsgeschlecht. Sie eroberten ab dem Jahr 1000 die östlich der Elbe gelegenen Gebiete von den Slawen, christianisierten sie und gründeten die Mark Brandenburg. Dabei war die Burg Tangermünde ein wichtiger Stützpunkt.
Tangermünde besticht durch Stadtkulisse und Wasserlage
Oben an der Burg wird klar, warum hier einst eine Stadt gegründet wurde. Es ist nicht nur die Hochlage, sondern auch die Nähe zum Wasser. Erstmals erwähnt wird die Burg im Jahr 1009 von Bischof Thietmar von Merseburg, der von der „civitas Tongeremuthi“ schreibt, von der Ansiedlung, wo der Tanger (Tongera) in die Elbe mündet. Die erste urkundliche Erwähnung der Stadt datiert aus dem Jahr 1275. Ihre Blütezeit als Hansestadt hatte sie im 15. Jahrhundert.
An der Burg kann die wechselvolle Geschichte dieser Stadt anschaulich erklärt werden: Erst sicherte sie das Reich gegen die ostelbischen Slawen, dann war sie Kaiser- und später Kurfürstensitz, im Dreißigjährigen Krieg wurde sie von schwedischen Truppen zerstört. „Das auf den Fundamenten neu errichte Barockschloss diente als kurfürstliches Amtsgericht“, sagt die Stadtführerin. „In der DDR war es ein Kinderkrankenhaus, nun ist es das schönste Hotel mit Elbblick.“
Der historische Stadtkern – einst gab es 629 Wohnstätten, davon waren 82 Brauhäuser – bietet ein für Ostdeutschland einzigartiges Bild. Überall Fachwerkhäuser: klein, schön und wunderbar saniert. Es gibt nur wenige Häuser, die noch nicht dem Verfall entrissen sind. Der 87 Meter hohe Turm der Kirche St. Stephan ist das höchste Bauwerk der Altmark. Und das historische Rathaus ist ein Paradebeispiel der norddeutschen Backsteingotik.
Tangermünde gilt als „Rothenburg des Nordens“
Diese Stadt ist ein Kleinod, ein Ort, von dem heftig geschwärmt wird: Vielen gilt Rothenburg ob der Tauber als schönste Stadt Deutschlands, Tangermünde wird „Rothenburg des Nordens“ genannt. Die Zeitschrift Geo wählte sie bei den zehn schönsten Kleinstädten auf Platz 6, und die Nutzer des Internetportals Travelbook kürten sie zur schönsten Kleinstadt Deutschlands.
Der entscheidende Grund für die Schönheit: Tangermünde blieb im Zweiten Weltkrieg von Luftangriffen verschont, während sich ringsum viele Städte in Ruinenfelder verwandelten. In der nahen Landeshauptstadt Magdeburg wurden bei einem Luftangriff im Januar 1945 fast 90 Prozent der Altstadt zerstört; dort war Rüstungsindustrie ansässig. Tangermünde lag in der Einflugschneise der Bomber auf dem Weg nach Berlin: Auf dieser Route luden die Alliierten einen Teil ihrer zerstörerischen Last oft im nahen Stendal ab, weil es dort Kasernen gab, dann flogen sie weiter und bombardierten Rathenow wegen seiner Flugzeug- und Optikindustrie. Tangermünde lag genau dazwischen und wurde ausgelassen.
Tangermünde blieb im Zweiten Weltkrieg unzerstört
„Wir hatten Glück, dass es bei uns keine Rüstungs- oder Schwerindustrie gab“, sagt Regine Schönberg. In Tangermünde wurden nur Lebensmittel hergestellt. Berühmt war die erste deutsche Zuckerfabrik, die bis 1945 die größte Zuckerraffinerie Europas war. Diese Fabrik wollten die Alliierten wohl nicht zerstören, um die eigenen Truppen und die Bevölkerung versorgen zu können. „Und es gibt auch das Gerücht, dass unsere Stadt nicht bombardiert wurde, weil ein Amerikaner Teilhaber der Zuckerfabrik war.“

Zerstört wurde nur die Elbbrücke – von deutschen Truppen, um den Vormarsch der US-Truppen zu behindern. Sie wurde 2001 neu gebaut und ist heute die längste Straßenbrücke Sachsen-Anhalts.
Nicht nur Kriege richteten Schäden an, auch die Vernachlässigung von Bausubstanz. Ein Fakt, der vielen Städten in der DDR zusetzte. Nicht so Tangermünde. Das lag daran, dass 75 Prozent der Häuser in Privatbesitz waren und die Leute diese Häuser trotz Materialmangels erhielten. Außerdem war der Ort eine Defa-Filmstadt, also die architektonische Kulisse für viele Filme wie „Kopernikus“ oder „Ruth Fuchs“. Auch heute wird noch gedreht.
„Wir hatten immer wieder Glück“, sagt Regine Schönberg. „Glück im Krieg, dann hatten wir Glück, dass wir unsere Bausubstanz in der DDR-Zeit konservieren und danach sanieren konnten.“ Und genau das mache die Tangermünder so stolz auf ihre Stadt. „Manche müssen wegen der Arbeit wegziehen. Aber echte Tangermünder kehren spätestens zur Rente zurück.“
Wir hatten immer wieder Glück. Glück im Krieg, dann hatten wir Glück, dass wir unsere Bausubstanz in der DDR-Zeit konservieren und danach sanieren konnten.
Die 10.000-Einwohner-Stadt zählt mehr als 100.000 offizielle Hotelübernachtungen pro Jahr und dreimal so viele Tagestouristen. „Wir sagen immer: Die Berliner fallen am Wochenende um 10.30 Uhr mit dem Zug bei uns ein und verlassen uns wieder mit dem Zug um 17.30 Uhr“, sagt Regine Schönberg.
Oft heißt es spöttisch, die Altmark sei 100 Jahre hinter der Zeit. „Aber etwas langsamer zu sein, kann auch von Vorteil sein. So können wir hoffentlich auf viele Fehler der anderen verzichten“, sagt Elisa Jubert, die Museumsleiterin. Sie ist 33 Jahre alt, stammt ebenfalls aus der Altmark und hat Kunstgeschichte in Göttingen und Berlin studiert. Seit dem Ende der DDR sei die Stadt so schlau gewesen, nicht wie alle anderen nur auf Industriearbeitsplätze zu schauen, sondern auch auf den Tourismus. „Heute lebt Tangermünde davon, aber die Stadt will auch, dass sie für die ansässigen Bürger lebenswert bleibt.“
In anderen Touristenstädten sind Ladenketten überpräsent. In Tangermünde sind fast alle Häuser im Besitz der Ladenbetreiber. Dort gibt es keine Ketten, nur die Sparkasse, aber deren sonst so roter Schriftzug ist hier kupferfarben, passend zu den Ziegeln. In den kleinen Läden gibt es also nicht nur das, was es überall gibt, und so zieht es auch die Altmärker zum Shoppen in die Stadt.

Die Touristen aber kommen wegen der Historie. Und die ist vor allem mit einer Frau verbunden: Grete Minde. Ihr Name steht für das große Feuer vom 13. September 1617, das die Geschichte von Tangermünde in ein Davor und ein Danach teilt, weil die Stadt fast vollständig niederbrannte: 486 Häuser und 52 volle Scheunen gingen in Flammen auf. Die meisten Gebäude, die heute stehen, wurden erst nach der Katastrophe gebaut.
Die bekannteste Figur Tangermündes hat eine tragische Geschichte
Der Brandenburger Schöffenstuhl sprach Grete Minde schuldig, das Feuer gelegt zu haben. Sie wurde öffentlich hingerichtet. In den Gerichtsakten heißt es: Ihr wurden „fünff finger an der Rechten Hand einer nach dem andern mit glühenden Zangen abgezwacket, nachmalen ihr Leib mitt vier glühenden Zangen, nemlich in der Brust und Arm gegriffen, Folglich mitt eisernen Ketten uff einem erhabenen Pfahle angeschmiedet, lebendig geschmochet und allso vom leben zum tode verrichtet werden, von Rechts wegen“.
Mit ihr starben ihr Ehemann und ein gemeinsamer Bekannter. „Schmöchen“ war eine Hinrichtung durch Ersticken: Rings um die erhöht angeketteten Verurteilten wird feuchtes Stroh entzündet, sodass der Qualm sie über mehrere Stunden lang zu Tode räuchert.
Auch in Theodor Fontanes gleichnamiger Novelle ist Grete Minde schuldig, eine Frau, die als Heilerin tätigt war und Abtreibungen vornahm, die den Erbschaftsstreit ihrer Mutter mit einer der reichsten Familien der Stadt fortsetzte. Aus Rache, weil ihr das Erbe vorenthalten wurde, soll sie an jenem Tag in der Stadt mehrere Brände gelegt haben.
Denkmal auf dem Marktplatz zeigt Grete Minde
„Sie war als Hexe verschrien, das passte ins Bild“, sagt Elisa Jubert. „Dabei war Grete Minde zur Tatzeit in einem ganz anderen Ort, aber sie war den Ratsherren wegen des Erbstreits ein Dorn im Auge. Und es wurde jemand gebraucht, der sie die Schuld geben konnten.“
Nicht nur Museumsleiterin, sondern auch Stadtarchivarin ist Elisa Jubert. Und damit ist sie Herrin über die Gerichtsakten, die von den Geständnissen unter der Folter berichten. „Grete Minde war unschuldig“, sagt sie, „ein Justizopfer. Inzwischen ist sie rehabilitiert.“ Grete Minde – in Ketten gelegt an Händen und Füßen – steht seit 2009 als lebensgroßes Denkmal auf dem Marktplatz.
„Die tragischste Figur der Stadtgeschichte ist heute die bekannteste Person von Tangermünde“, sagt Jubert. Sie dreht sich um und öffnet mit einem großen alten Schlüssel die Tür zum Stadtmuseum – und zu einer Geschichte, die die Historie ganz wunderbar mit unserer Zeit verbindet. Hier hängt ein farbsattes Gemälde der Stadtmauer im Sonnenuntergang, entstanden 1887. Sein Weg nach Tangermünde begann im Fernsehen.

Im Sommer 2019 schaute Elisa Juberts Großvater, wie so oft, die Sendung „Bares für Rares“. Sie saß dabei. Zur Versteigerung stand ein Gemälde. Sie erkannte sofort, dass es Tangermünde zeigt. Die Experten schätzten den Wert auf 450 Euro, der Kunsthändler Fabian Kehl erhielt den Zuschlag bei 1350 Euro.
„Den rief ich am nächsten Tag an und fragte, ob das Gemälde für unser Museum zu haben sei“, erzählt Jubert. Kehl sagte, auch andere Tangermünder seien scharf auf das Bild. „So wurde der Preis um 1000 Euro hochgeboten.“ Dann habe sie erfahren, wer noch mitbietet. „Ich habe ihn angerufen und gesagt: Wir sind uns doch einig, dass dieses Bild in unser Museum gehört!“ Jetzt gehört es zu den besonderen Stücken des Hauses, so wie Grete Mindes Gerichtsakte und das „Schwurkästchen“ von 1461, auf das einst die Ratsherren ihren Amtseid ablegten.
Tangermünde hat eine große Historie. Jeder würde sie kennen, wäre die Geschichte nicht abgebogen. Einst weigerten sich die altmärkischen Städte, eine neue Biersteuer zu zahlen. Kurfürst Johannes Cicero entzog den Städten daraufhin ihre Selbstständigkeit und verlegte 1488 seine Residenz von Tangermünde nach Cölln (dem heutigen Berlin). Wäre der Steuerstreit nicht gewesen, würde sich die deutsche Hauptstadt vielleicht nicht am Zusammenfluss von Spree und Havel befinden, sondern an dem von Elbe und Tanger.
- Adresse: Tangermünde, Sachsen-Anhalt
- Anfahrt: Zug bis Stendal, weiter mit der Regionalbahn bis Tangermünde, www.bahn.de
- Buchtipp: Sigrid Brückner (Hrsg.): Tangermünde. 1000 Jahre Geschichte, Verlag Janos Stekovics, Dößel 2019 (2. Auflage)