Corona-Pandemie

Sechs Berliner erzählen: Darum haben wir die Corona-Regeln gebrochen

Heimliche Spieleabende, ein verbotener Grenzübertritt, eine Trauerfeier mit zu vielen Gästen. Berliner erzählen, warum sie Corona-Regeln brechen.

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Im Park am Gleisdreieck kontrollieren Polizisten, ob sich die Menschen an die Corona-Regeln halten.
Im Park am Gleisdreieck kontrollieren Polizisten, ob sich die Menschen an die Corona-Regeln halten.dpa/Fabian Sommer

Politiker klagen über sie, in den sozialen Netzen wird ihnen vorgeworfen, das Virus zu verbreiten und schlimme Folgen für andere Menschen in Kauf zu nehmen. Wer sind diese Corona-Regelbrecher? Wie erklären sie ihr Verhalten? Sieben Berliner geben Auskunft. Über ihre Abwägungen, ihre eigene Definition von Vorsicht und ihre Verstöße. Die meisten mit schlechtem Gewissen – und vier von ihnen nur anonym.

Die Neuberlinerin als Corona-Regelbrecherin

Ich bin 27 und wohne erst seit dem Sommer in der Hauptstadt. Dementsprechend habe ich hier keine Familie und kannte anfangs kaum Leute. Bis ich auf meine Volleyballgruppe traf. Bereits im Sommer haben wir immer miteinander gespielt. Es war toll, und wir hatten viele weitere Aktivitäten für den Winter geplant. Doch es kam anders.

Es wurde kälter, die Infektionszahlen stiegen, die Restaurants und Sporthallen mussten schließen. Und wir? Spielten den ganzen Winter über weiter Volleyball. Mit der richtigen Kleidung war das kein Problem, selbst bei Schneefall. Wir waren an jedem Wochenende am Feld. Manchmal gingen wir auch Inliner fahren, illegal. Denn wir waren in Gruppen mit mindestens vier Haushalten unterwegs.

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Als eine Clique von Leuten, die vor allem aus Zugezogenen besteht, wollten wir auch sonst nicht einsam bleiben. Und da wir immer die gleichen Leute waren, haben wir es nicht bei Treffen im Freien belassen. Wir trafen und treffen uns auch zu Spieleabenden, meist sind wir dabei nicht mehr als vier. Wir spielen Catan, Poker oder Scharade. Lachen in Gemeinschaft als gesetzeswidrige Flucht vor dem traurigen Alltag.

Außerhalb unseres Freundeskreises schränken wir die Kontakte stark ein; wenn jemand krank ist, auch nur leicht, treffen wir uns nicht. Seit es kostenlose Tests gibt, haben wir vereinbart, dass wir sie regelmäßig nutzen. Ging es doch mal nach Hause zur Familie, etwa zu Weihnachten, haben wir uns auch testen lassen.

Wir haben in den vergangenen Monaten oft untereinander über unsere „Vergehen“ gesprochen. Wir waren uns einig, dass es den meisten von uns gar nicht gut ginge, wenn wir uns ausnahmslos an alle Regeln gehalten hätten. Schließlich gibt es noch die psychische Gesundheit, der Mensch ist nun mal ein soziales Wesen. Wir sind alle zwischen 22 und 40 und haben die Auswirkungen des Lockdowns auf die psychische Gesundheit deutlich gespürt. Trotz der Regelbrüche. (Name der Redaktion bekannt)

Der Trauernde als Corona-Regelbrecher

Im ersten Corona-Jahr habe ich zwei Erdbestattungen beigewohnt. Die erste fand Ende März 2020 statt. Die Beisetzung meiner Mutter auf dem Kreuzberger Friedhof Dreifaltigkeit durfte nur im engsten Familienkreis und ausschließlich am offenen Grab stattfinden, zehn Personen inklusive Priester und Sargträger waren gestattet. Eine Trauerzeremonie in der Friedhofskapelle musste abgesagt werden, Freunde und Verwandte, die ihr Kommen zugesagt hatten, stornierten mit Bedauern. Das Virus attackierte also nicht nur die Körper, sondern auch Gewohnheiten und Traditionen.

Nach der Beisetzung, zu der wir uns Umarmungen verkniffen hatten, gingen wir mit dem Versprechen auseinander, eine angemessene Zusammenkunft nachzuholen, sobald dies möglich sei, zum Beispiel am Tag des 100. Geburtstags unserer Mutter im Juli. So haben wir es auch gemacht.

Im März 2021 mussten wir Abschied von meinem Schwager nehmen, dem Bruder meiner Frau. Er war plötzlich und unerwartet gestorben, ein schwerer Infarkt. Auf traurig-gespenstische Weise wiederholten sich die Fragen über die Restriktionen und Beschränkungen zur Beisetzung. Wie viele Personen sind erlaubt? Wird es eine Trauerfeier geben, muss die Teilnehmerzahl am Grab begrenzt werden?

Der niedersächsische Landkreis, in dem die Beisetzung stattfinden sollte, war eine Woche zuvor zum Hochinzidenzgebiet erklärt worden, am Tag der Beerdigung lag der Inzidenzwert über 140. Beinahe jede Form der sozialen Begegnung stand unter dem Verdacht, eine illegale Zusammenkunft abzugeben.

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Während die Trauerfeier in der Friedhofskapelle und am Grab trotz Maskenpflicht in sehr würdevoller Form stattfinden konnte, begaben wir uns kurz danach in die Illegalität des privaten Raums. Erlaubt wäre die Zusammenkunft von maximal fünf Personen aus zwei Hauhalten gewesen, wir aber waren sieben Personen aus fünf Haushalten – die Mutter des Verstorbenen, zwei Geschwister, zwei Kinder plus Partner. Diesmal, so sagten wir uns, können wir nicht einfach so auseinandergehen. Sind wir zu leichtsinnig gewesen?

Im Vorfeld war es zu Streitigkeiten gekommen, es gab die Fraktion der Großzügigen, die genervt war von den Einwänden der Vorsichtigen. Die Vorsichtigen hatten sich durchgesetzt und die Runde nicht nur auf ebendiese sieben Personen begrenzt, sie hatten den Großzügigen auch die Zusage abgerungen, sich testen zu lassen. Ehe wir uns also am Morgen der Beisetzung zum Friedhof in Bewegung setzten, glich das Haus der Oma, wo später auch die illegale Zusammenkunft stattfand, einer Teststation.

Wandten wir die Tests richtig an? Waren das Gefühl der Sicherheit und der Versuch, verantwortungsvoll mit der Situation umzugehen, nicht ein riesiger Selbstbetrug? Das lustige Testen jedenfalls überlagerte und veränderte das Gefühl der Trauer, die, wäre sie vom Ordnungsamt überprüft worden, vermutlich mit Bußgeldbescheiden zwischen 2000 und 7000 Euro hätte geahndet werden müssen. Harry Nutt

Die Kunstliebhaberin als Corona-Regelbrecherin

Ja, ich gestehe. Ohne Reue. Ich war ein paarmal ungehorsam in den schier endlosen Lockdown-Zeiten. Ich habe gesündigt, ein Gebot missachtet. Eins, das nicht im Buch der Bücher, also in der Bibel steht. Denn ich habe wissentlich die Pandemie-Regel gebrochen. Obwohl mir meine protestantische böhmische Oma (mit DDR-Erfahrung) streng eingetrichtert hat: „Wer sich an die Regeln hält, hat nichts zu befürchten!“

Selbstredend, ein Gemeinwesen braucht Regeln, die das Leben, gerade in verwirrenden, verstörenden Zeiten, ordnend in bestimmte Bahnen lenken. Aber ich habe die – von der Vernunft gebotene – Isolation nicht mehr ertragen, die uns menschliche soziale Wesen einengt, nervt, unglücklich und schlaflos macht. Ich habe während der Corona-Sperren, heimlich abgesprochen mit Galeristen und Museumsleuten, in den trotz ihrer exzellenten Hygienemaßnahmen geschlossenen Ausstellungshäusern Kunstwerke angeguckt. Ganz allein, mit Mund-Nasen-Schutz, versteht sich.

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Für mich sind Bilder und Skulpturen so etwas wie Lebensmittel des täglichen Bedarfs. Und Arbeitsgegenstand, denn ich schreibe über Kunst. Einmal gelang mir sogar eine Audienz bei Königin Nofretete. Ich hoffe sehr, ich komme nun nicht in Beugehaft, um die freundlichen Ermöglicher meiner Zwiesprache mit Farbe und Form verraten zu müssen.

Auf meinen Kunsttrips habe ich auch in Hinterzimmern Interviews geführt und in den stadtweit geöffneten kleinen Cafés an leeren Bistrotischen stehenderweise eine notwendige Stärkung vertilgt. Manchmal wurde ich geduldet, öfter aber vom Personal streng weggejagt, auch wenn ich ganz allein im Café war. Dieses Verzehrverbot, zumal allein im Raum, finde ich würdelos. Ingeborg Ruthe

Die Verliebte als Corona-Regelbrecherin

Im April 2020 bin ich illegal über die Grenze von Schweden nach Norwegen gereist, um bei meinem Freund zu sein. Wir führten seit drei Jahren eine Fernbeziehung, als Norwegen von heute auf morgen die Grenzen schloss. Ich hatte mich noch nie so ausgeliefert gefühlt. Mir wurde etwas Essenzielles genommen – meine Beziehung. Ich war todunglücklich, stand unter Schock. Niemand wusste, wie lange die Grenzen geschlossen bleiben würden.

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Meine Mutter, die einst über die Budapester Botschaft aus der DDR geflohen war, legte mir nahe, mich irgendwie nach Norwegen durchzuschlagen. Also bin ich noch in derselben Woche nach Göteborg geflogen und habe von dort drei Busse genommen, um nahe an die Grenze zu gelangen. Von Anfang bis Ende hatte ich große Angst, geschnappt zu werden. Überall rechnete ich mit Fragen. Die Stimmung in Deutschland und großen Teilen Europas war apokalyptisch, und ich kam mir vor wie eine Verbrecherin. Deshalb wussten auch nur sehr wenige von meinem Vorhaben.

An der Grenze klopfte mir das Herz bis zum Hals. Ich war dem Ziel so nah. Mein Freund hatte sich in einem Wald auf der schwedischen Seite versteckt. Zusammen liefen wir im Zickzack nach Norwegen. Dort blieb ich mehr als vier Monate, ohne zu wissen, wann ich nach Deutschland zurückkann. Zum Glück konnte ich meinen Job von dort machen, im Homeoffice. Mittlerweile lebt mein Freund mit mir in Berlin. Die norwegischen Grenzen waren für ein paar Wochen auf, diese Zeit haben wir genutzt. Jetzt sind sie wieder geschlossen. Unsere Beziehung hätte die Distanz ohne Aussicht auf ein Ende nicht überlebt. Es war den Regelbruch wert. (Name der Redaktion bekannt)

Der Gastgeber als Corona-Regelbrecher

Die überkomplexen und gleichmacherischen Regeln waren für mich zu keiner Zeit nachvollziehbar. Warum darf man nicht draußen im Restaurant sitzen, wenn alle Wissenschaftler sagen, dass draußen kaum Gefahr droht? Im ersten Lockdown bin ich illegal mit einem Freund mit dem Auto quer durch die Republik gefahren um Freunde zu besuchen. Einmal wurden wir in Bayern von der Polizei angehalten. Wir haben gesagt, wir seien verlobt, obwohl wir weder schwul noch in einer Beziehung sind. Dem Polizisten hat das gereicht, er hat uns einfach weiterfahren lassen. Weil er so was ja nicht nachprüfen kann. Danach habe ich mir gedacht, was soll diese Bürokratie?

Ich habe mir schon im vergangenen Oktober eine Packung Schnelltests gekauft. Das war gar nicht schwer. Man konnte die einfach bestellen, für sechs Euro das Stück. Und mit der Sicherheit der Tests habe ich dann auch wieder zehn Leute in meine Wohnung eingeladen, zum Abendessen. Das ging gut. Während meine Gäste die 15 Minuten auf ihr Testergebnis gewartet haben, haben sie ein Bier auf dem Balkon getrunken und zwei Zigaretten geraucht. Keiner war positiv. Jesko zu Dohna

Die Impfgewinnerin als Corona-Regelbrecherin

„Hiermit wird Ihnen bescheinigt, dass Sie im Sinne vom § 3 Abs. 1 Nr. 2 Coronavirus-Impfverordnung einen Anspruch auf eine Schutzimpfung mit hoher Priorität gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 haben.“ Ich habe noch nie im Leben etwas gewonnen. Bis vergangene Woche dieser Brief kam – mit einer Impfeinladung. Ich bin Anfang 40, arbeite nicht in der Pflege, bin keine Ärztin, keine Lehrerin. Ich habe einen Homeofficejob.

Ich habe zwei Ärzte angerufen, bei denen ich in Behandlung bin. Bin ich eine Risikopatientin, ohne es zu ahnen, hatten sie meinen Namen irgendwo gemeldet? Nein, sagten beide. Dann habe ich bei der Hotline angerufen, deren Nummer im Brief stand. Es gab einige Berliner, die Glück hatten, sagte mir der nette Mann am Telefon. Es hätten schon viele angerufen, die eigentlich noch lange nicht dran wären. Ich habe mir online einen Termin gebucht, gleich für den nächsten Tag. Der Brief war ein Fehler im System, reiner Zufall. Ein Sechser im Impflotto.

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Ich habe mit einer Freundin geredet, die als Lehrerin selbst schon geimpft ist, und mit drei anderen Menschen. Ansonsten werde ich schweigen. Nicht mal meine Mutter weiß Bescheid. Ich poste sonst Dinge aus meinem Leben auf Twitter oder Instagram, aber das hier auf gar keinen Fall. Mir würde Impfneid entgegenschlagen, wahrscheinlich auch moralische Verachtung. Ich verstehe das, es ist unfair, dass ich schon dran war, während Risikopatienten warten. Habe ich die Regel der Impfreihenfolge gebrochen, oder war es der Senat mit seinem Brief?

Andererseits hört man, dass Menschen ihre Impftermine nicht wahrnehmen, alles zu langsam geht. Ich musste es mit meinem Gewissen ausmachen. Und habe es getan, ich habe mich impfen lassen. (Name der Redaktion bekannt)