Tod in der Corona-Krise

Schuldgefühle eines Sohnes: „Ich musste meinen Vater allein sterben lassen“

Matthias Richter (56) aus Charlottenburg leidet darunter, dass er sich von seinem Vater Hellmut (†86) im Pflegeheim nicht mehr verabschieden konnte.

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Hellmut und seine Ehefrau Ingrid bei einem ihrer Urlaube an der Nordsee.
Hellmut und seine Ehefrau Ingrid bei einem ihrer Urlaube an der Nordsee.Privat

Hellmut Richter starb im Juni allein in einem Pflegeheim. Von seiner Familie konnte er sich nicht mehr verabschieden, weil sie wegen des Besuchsverbots während der Corona-Krise nicht mehr zu ihm durfte.

Kurz vor seinem Tod durfte er nur seine Ehefrau Ingrid noch einmal durch eine Glasscheibe sehen. Die einsamen letzten Stunden des Vaters haben seinen Sohn, Matthias Richter (56), sehr traurig und auch wütend gemacht. Deshalb hat der Heilpraktiker aus Charlottenburg das Schicksal seines Vaters öffentlich gemacht. Er wünscht sich während der Pandemie mehr Sensibilität beim Abwägen der Schutzmaßnahmen und mehr individuelle Entscheidungen.

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Hellmut und Ingrid an Weihnachten vor ein paar Jahren.
Hellmut und Ingrid an Weihnachten vor ein paar Jahren.Privat

„Gestorben wird immer – fragt sich nur wie? In Zeiten von Corona wird vorsichtshalber zu Tode geschützt.“ Unter dieser Überschrift erschien vor ein paar Wochen ein sehr langer und emotionaler Beitrag von Matthias Richter bei Facebook über den leisen Tod seines Vaters.

„Insgesamt knappe zwei Monate vergingen, abgetrennt von allen Menschen, die ihn lieben, hat er wohl nach dem letzten Besuch meiner Mutter hinter der Scheibe in irgendeinem Teil seiner Seele beschlossen zu gehen und tat es dann auch. Was blieb ihm sonst anderes übrig?“, beschreibt Richter darin seine Gefühle.

Vor zwei Jahren feierte die Familie den 80. Geburtstag von Hellmut Richters Ehefrau Ingrid. Das Bild zeigt Sohn Matthias, Hellmut und Ingrid Richter (v. li.) gemeinsam.
Vor zwei Jahren feierte die Familie den 80. Geburtstag von Hellmut Richters Ehefrau Ingrid. Das Bild zeigt Sohn Matthias, Hellmut und Ingrid Richter (v. li.) gemeinsam.Privat

Er habe seine Traurigkeit, Wut und Verzweiflung einfach niederschreiben müssen, erklärt er dem KURIER in einem persönlichen Gespräch. Er habe seinen Vater nicht mehr in den Arm nehmen können oder liebevoll seine Hand streicheln, als es ihm immer schlechter ging. Die Angst vor dem Virus hatte jegliche Nähe und Fürsorge unmöglich gemacht. „Mein Vater litt unter Demenz. Für ihn war körperlicher Kontakt mit vertrauten Menschen besonders wichtig“, weiß Matthias Richter.

Bis zum 8. April hatte Hellmut Richter noch gemeinsam mit seiner Frau in einer Mietwohnung in Saarbrücken gewohnt. Ein Pflegedienst versorgte ihn mehrmals am Tag, da er wegen eines Schlaganfalls vor zwei Jahren nicht mehr laufen konnte und auf den Rollstuhl angewiesen war.

„Mein Vater vergaß immer, dass er nicht laufen kann“

Doch an jenem Tag erlitt er in seinen vier Wänden einen Unfall. „Mein Vater vergaß immer, dass er nicht laufen kann. Als er für einen Moment in seinem Rollstuhl nicht festgeschnallt war, stand er auf und stürzte schwer“, sagt Matthias Richter. Hellmut Richters Frau rief den Notarzt und er kam in ein Krankenhaus. Danach hat sie ihren Mann nur noch ein einziges Mal durch Plexiglas wiedergesehen.

In der Klinik stellten die Ärzte keine größeren Verletzungen oder Frakturen fest, nur einen leichten Harnwegsinfekt, so erklärt es sein Sohn. Doch einen Tag später testeten sie ihn auf Corona: Das Ergebnis fiel zur Verwunderung positiv aus; der Patient zeigte keinerlei Symptome. Daraufhin musste Hellmut Richter zwei Wochen isoliert in einem Einzelzimmer verbringen. „In dieser Zeit baute mein Vater körperlich und geistig stark ab. Die Ärzte rieten uns, meinen Vater in ein Pflegeheim zu geben“, sagt Matthias Richter.

Diese Entscheidung sei ihm, seinen Geschwistern und seiner Mutter nicht leichtgefallen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er den Vater lieber nach Hause geholt, damit er nicht länger allein ist. Doch da seine Mutter mit ihren 82 Jahren auch nicht mehr ganz fit sei, hätten sie ihr die Verantwortung nicht mehr zumuten wollen, den Vater in diesem Zustand zu versorgen – und gaben ihn schweren Herzens in Saarbrücken in eine Senioreneinrichtung.

Nur durch eine Glasscheibe durften sie sprechen

Dort wurde Hellmut Richter erneut für zwei Wochen isoliert, da für neue Bewohner vom Heim eine Quarantäne angeordnet wurde. Als Ingrid Richter ihren Mann kurz vor seinem Tod das erste Mal wieder besuchen durfte, sei sie erschrocken über den Zustand ihres Mannes gewesen, erzählt ihr Sohn.

Sie habe nur durch eine Glasscheibe hindurch mit ihm sprechen dürfen. Er habe am ganzen Körper gezittert und gar nicht verstanden, was sie ihm gesagt habe. Vermutlich habe er seine eigene Ehefrau, mit der er am 21. Mai dieses Jahres 60 Jahre lang verheiratet war, nicht mehr erkannt. So sah Ingrid Richter ihren Mann zum letzten Mal. Nur eine Woche später starb er nachts allein in seinem Bett. Das Herz machte nicht mehr mit.

Matthias Richter glaubt, dass sein Vater sich schrecklich allein gefühlt haben muss. „Er war immer ein Familienmensch und er hat seine vier Kinder und drei Enkel sehr geliebt“, sagt er. Sein Vater hatte bis vor der Rente als evangelischer Pfarrer gearbeitet und sich daher schon intensiv mit seinem Tod auseinandergesetzt. Zuletzt habe er ihm bei jedem Besuch gesagt: „Denk daran, Matthias, es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass wir uns sehen.“ Sein Vater habe keine Angst gehabt vor dem Sterben, aber sicherlich vor dem Alleinsein. Mit dem er niemals gerechnet habe.

Es gibt Augenblicke, da überkommen Matthias Richter Schuldgefühle, weil er seinem Vater in den letzten Stunden nicht mehr beistehen konnte. Von einem Kollegen hat er später erfahren, dass er als Heilpraktiker eine Ausnahme des Besuchsverbots in Kliniken und Pflegeheimen bekommen hätte. Doch da war sein Vater schon tot. „Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht selbst darauf gekommen bin. Damit hätte ich meinem Vater einiges ersparen können“, vermutet er.

Viele Angehörige haben Angst

Matthias Richter erzählt das sehr persönliche Schicksal seines Vaters so eindrücklich, weil er Sorge hat, es könne sich bei anderen wiederholen. Wegen der hohen Infektionsgefahr haben die Kliniken in Berlin seit Mitte Oktober erneut ein Besuchsverbot ausgesprochen, das aber in Ausnahmefällen gelockert werden kann, wenn zum Beispiel ein Angehöriger im Sterben liegt. In den Pflegeheimen gelten derzeit lediglich Besuchseinschränkungen.

Doch da es momentan in Deutschland immer wieder zu neuen Corona-Ausbrüchen in Pflegeheimen und Kliniken kommt, haben viele Angehörige Angst, dass sich auch daran womöglich wieder etwas ändern könnte. In Niedersachsen hat sich Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) vor knapp zwei Wochen noch für ein Besuchsrecht in Kliniken und Pflegeeinrichtungen ausgesprochen, das er trotz hoher Infektionszahlen sogar in der Niedersächsischen Landeverordnung garantieren wolle. Gegenüber der ARD äußerte er sich öffentlich, die Abwägung zwischen der Einsamkeit von lebensalten Menschen oder Kranken auf der einen Seite und dem Risiko für andere Bewohnerinnen und Bewohner in Heimen sei ein „moralisches Dilemma“.

„Ich verstehe, dass die Bewohner oder Patienten geschützt werden sollen, und finde das auch richtig, aber man muss ebenso Wege aus der Einsamkeit finden“, sagt auch Matthias Richter. Es wird ihn vielleicht zeitlebens beschäftigen, dass er sich von seinem geliebten Vater nicht mehr verabschieden konnte.