Sawsan Chebli will im nächsten Jahr in den Bundestag gewählt werden. Doch dafür muss sie noch einige Hürden nehmen.<br>
Sawsan Chebli will im nächsten Jahr in den Bundestag gewählt werden. Doch dafür muss sie noch einige Hürden nehmen.
Foto: Markus Wächter

Diese Frau polarisiert: Sawsan Chebli, Staatssekretärin in der Berliner Senatskanzlei, kämpft für Gleichberechtigung und gegen Sexismus, zur Not bis vor Gericht. Jetzt will die 42-Jährige in den Bundestag - ausgerechnet über den Wahlkreis, den sich auch ihr Chef, der scheidende Regierende Bürgermeister Michael Müller, ausgesucht hat. Ein Treffen in einem Café am Kudamm, pünktlich zum Start der Mitgliederbefragung der SPD im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf.

Frau Chebli, erste Frage vorweg: Haben Sie Personenschutz?

Ja.

Seit wann?

Seit dem Mord an Walter Lübcke.

Gab es einen konkreten Anlass dafür, der mit Ihnen zu tun hat?

Die Morddrohungen gegen mich haben zugenommen, und ich wurde tatsächlich auch auf der Straße angegriffen. Von einem Rechten.

Ist Ihnen das vorher schon einmal passiert?

Nein.

Sie sind Berlinerin, wo sind Sie aufgewachsen?

Ich bin in Berlin-Moabit geboren und aufgewachsen.

Wie lange haben Sie in Moabit gelebt?

Bis zu meinem 21. Lebensjahr.

Und dort ist Ihnen nie etwas passiert?

Nein, niemals.

Haben Sie damals als palästinensisch-stämmige junge Frau mal Rassismus erfahren?

In der achten Klasse hatte ich einen Lehrer, der mir permanent gezeigt hat, dass er nichts davon hält, dass ein Flüchtlingskind jetzt auf dem Gymnasium ist. Das hat mich so runtergezogen. Ich bin sitzen geblieben, habe die Schule gewechselt - und aus den Fünfen wurden Top-Noten und das beste Abitur meines Jahrgangs. Rückblickend würde ich sagen, der Lehrer hatte rassistische Einstellungen. Ansonsten habe ich Rassismus als Kind und junge Frau eher nicht wahrgenommen. Wir mussten uns mit anderen Dingen rumschlagen. Armut, Staatenlosigkeit ...

… Sie haben mit elf Geschwistern in zwei Zimmern gewohnt …

... es ging um unsere Existenz.

Wie ging es weiter nach Moabit?

Meine Mutter konnte die zwei Stockwerke in dem schönen Altbau, in dem wir von Transferleistungen lebten, nicht mehr bewältigen. Dann sind wir umgezogen in eine nicht so gute Gegend. Das war der soziale Abstieg.

Was kam danach?

Ich habe studiert, angefangen im Bundestag zu arbeiten, habe geheiratet und bin nach Charlottenburg-Wilmersdorf gezogen…

… und sind seit wie vielen Jahren jetzt hier?

Seit 2005.

Womit wir fast schon beim Thema der vergangenen Wochen wären: Sie treten gegen den Regierenden Bürgermeister Michael Müller, den bekanntesten Politiker der Stadt, um die Direktkandidatur der SPD für den Wahlkreis an. Das sorgt für Aufsehen. Aber zunächst: Was macht den Bezirk aus?

Ich trete für meinen Bezirk an, nicht gegen Michael Müller. Wenn überhaupt, dann ist es andersherum. Charlottenburg-Wilmersdorf ist meine politische und persönliche Heimat. Ich lebe hier; mein neugeborener Sohn soll hier aufwachsen. Und zur Ihrer Frage: Charlottenburg-Wilmersdorf ist ein moderner, dynamischer, vielfältiger Bezirk mit immensem Potenzial, aber auch mit großen Herausforderungen wie steigenden Mieten in einer zunehmenden Gentrifizierung. Der Bezirk ist gelebte Globalisierung – international und weltoffen und erlebt tagtäglich die Chancen und Herausforderungen, die diese Globalisierung mit sich bringt. Da ist eine Menge zu tun.

Wie soll das im Bundestag gehen, wo Sie ja hinwollen?

Ich denke, dass ich für dieses dynamische, weltoffene Charlottenburg-Wilmersdorf stehe und auch Menschen aller Generationen für die SPD und ihre Ziele mobilisieren kann. Seien es junge Start-up-Unternehmerinnen und Kreative, die sich hier entfalten, oder die alteingesessene Berliner der Generation Rosinenbomber, die noch aus eigener Erfahrung wissen, wie sich weltpolitische Spannungen, Krieg, aber auch extremistisches Gedankengut auf unsere Stadt auswirken können. Das sind meine Themen und als Politikerin mit Erfahrung in der Außenpolitik, im Management von Krisen und der Regierung einer Weltstadt fühle ich mich reif für eine solche Aufgabe. Zudem habe ich viele Jahre im Deutschen Bundestag gearbeitet und weiß, wie es dort läuft, wie man Bündnisse schmiedet, um seine Themen voranzubringen. Deswegen bin ich mir auch sicher, dass ich die Interessen dieses Bezirks dort wirkungsvoll vertreten kann.

Welche Themen wollen Sie bearbeiten?

Ein zentrales Thema wird sein, wie wir das soziale Zusammenleben im Bezirk verbessern können und verhindern, dass die Polarisierung aufgrund steigender Mieten, Gentrifizierung, der Segregation an Schulen und rechter Hetze zunimmt.

Ihre Eltern sind Palästinenser, es sind Flüchtlinge aus dem heutigen Israel. Wie sieht's mit der Außenpolitik aus? Mit dem Nahost-Konflikt?

Wenn ich frei wählen dürfte, würde ich in den Auswärtigen Ausschuss und in den Innenausschuss. Da kann ich alle Themen, für die ich brenne und die im Bezirk eine Rolle spielen, miteinander verbinden. Globale Politik ist auch lokale Politik, und gerade in Berlin spüren die Menschen, wie beides miteinander zusammenhängt. Dass Außenpolitik direkte Auswirkungen auf unsere Nachbarschaft hat. Schauen Sie sich die Klimakrise oder die Flüchtlingskrise an. Die Frage von Obdachlosigkeit. Wir leben in turbulenten, unruhigen Zeiten. Es gibt wohl niemanden, der nicht mit einem mulmigen Gefühl auf die Welt blickt. Ich möchte, dass wir zum Beispiel keine Waffen in Diktaturen schicken und dass der Bundestag über Rüstungsexporte mitentscheidet. Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr tut er das ja auch.

Ihre bisherigen Themen als Staatssekretärin sind andere. Sie sind unter anderem zuständig für bürgerschaftliches Engagement. Wie passt das zusammen?

Bürgerschaftliches Engagement ist die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben, es ist Bollwerk für unsere Demokratie. Engagement braucht aber gute Strukturen, es braucht Anerkennung, es braucht Sichtbarkeit. Hier habe ich in den vergangenen Jahren im Senat vieles auf den Weg gebracht. Auch Charlottenburg-Wilmersdorf hat zum Beispiel vom Ausbau der Freiwilligenagenturen profitiert. Im Bundestag möchte ich mich dafür einsetzen, dass der Bund stärker in die Zivilgesellschaft investiert. Auch hier würde der Bezirk profitieren, wenn es dann Geld für Initiativen gibt.

Sie sind sehr aktiv, wenn es um Gleichstellung von Männern und Frauen geht. Was ist da zu erwarten?

Das Thema Gleichstellung bewegt mich in der Tat sehr. Heute mehr als früher. Da hatte ich gar keinen Grund, mich damit auseinanderzusetzen. Ich habe immer gedacht: Wenn du gut bist, kommst du weiter. Es waren eben vor allem Männer, die mich gefördert haben, Frank-Walter Steinmeier im Bund, Ehrhart Körting in Berlin zum Beispiel. Ich werde mich im Bund dafür stark machen, dass wir endlich das Paritätsgesetz und eine Quote in Führungspositionen bekommen. Deutschland schneidet im internationalen Vergleich desaströs ab.

Sie sind in den sozialen Netzwerken sehr engagiert gegen Alltagssexismus. Da ecken Sie auch an, streiten sich, werden beleidigt, ziehen vor Gericht, wenn so etwas passiert. Täuscht der Eindruck, dass Sie sich da etwas zurückgenommen haben?

Ich bin nach wie vor sehr aktiv. Vor allem im Kampf gegen rechts.

Sie sind oft angefeindet worden…

… ja, aber das lasse ich nicht an mich heran. Ich muss jetzt stark sein. Die Kandidatur geht an die Substanz und hat volle Priorität.

Die Kandidatur hat Priorität, sagen Sie. Nun ist ausgerechnet die besonders kompliziert, weil Sie gegen Ihren eigenen Chef im Senat und Parteivorsitzenden antreten, Michael Müller. Den müssen Sie verdrängen, um in Charlottenburg-Wilmersdorf antreten zu können. Das sehen viele kritisch in der SPD. Wie haben Sie die vergangenen Wochen erlebt?

Was heißt „verdrängen“? Ich habe vor einem Jahr kommuniziert, dass ich hier kandidieren möchte. Jetzt ist es, wie es ist. Ich sehe darin einen demokratischen Wettstreit. Ich denke, dass wir so Menschen auch wieder für die Demokratie begeistern können. Es ist nicht gut, wenn Entscheidungen immer nur hinter verschlossenen Türen herbeigeführt werden.

Haben Sie den Eindruck, dass Herr Müller das genauso sieht?

Das müssen Sie Herrn Müller fragen.

Ich frage aber Sie nach Ihrem Eindruck.

Am Ende muss es um die Stärkung unserer Partei gehen. Aber natürlich haben wir einen anderen Stil. Wenn Sie mich fragen, was die SPD gerade braucht, sage ich: Die SPD wird mit einem Weiter-So, mit Bewährtem im Bund nicht über 17 Prozent kommen. Wir haben in der Regierungsverantwortung viel für die Menschen erreicht, und trotzdem zahlt sich das nicht aus. Jedem muss klar sein: Wir müssen irgendetwas anders machen. Wir müssen unsere Politik besser vermitteln. Offener. Jünger. Klarer. Ansprechender. Und ich stehe für eine Politik, die anders ist.

Sie sprechen von einem anderen Stil als Michael Müller. Was meinen Sie damit?

Ich habe viele Wahlkämpfe bestritten. Ich habe immer wieder erlebt, wie sich Menschen aufschließen, wenn man offen und ehrlich auf sie zugeht und auch unbequeme Wahrheiten ausspricht. Zu oft versuchen wir, es allen recht zu machen, ja niemanden zu verschrecken. Das ist für mich nichts anderes als politische Selbstaufgabe. Wer mich kennt, weiß, dass ich keine Angst habe anzuecken, wenn es sein muss. Es ist okay, wenn ich von 40 Prozent der Leute aus vollem Herzen unterstützt und von 40 Prozent abgelehnt werde. Das ist mir lieber, als wenn die SPD 80 Prozent der Leute egal ist. Kann ich mit meiner Art Politik zu machen, den Wahlkreis wiedergewinnen? Tue ich der SPD gut? Bin ich diejenige, die der SPD helfen kann, aus diesem Loch zu kommen? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen.

Und?

Ja, das kann ich. Ich habe mit vielen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gesprochen, bevor ich die Entscheidung final gemacht habe, mich zu bewerben. Und sehr viele haben mich motiviert. In meinem Unterstützerkreis sind ältere Menschen, junge Menschen, Migranten, Schwarze, Weiße – sie alle teilen meine Hoffnung, dass wir mit der SPD wieder etwas bewegen können. Und, was meine These bestärkt: Viele von denen, die mich unterstützen, waren bisher nicht aktiv und sind teilweise nicht einmal in der Partei. Für mich wählen sie die Partei künftig nicht nur, sondern sind ihr auch beigetreten.

Tatsächlich hört man aus der Funktionärsebene ja eher, dass man Müller einen guten Übergang von der Landes- in die Bundespolitik gönnen will. Ohne Gesichtsverlust. Was nehmen Sie wahr?

Ich glaube, für die meisten geht es doch in erster Linie um den Anspruch, dass wir im Bundestag politisch mitgestalten. Viele in der SPD haben auch Sehnsucht nach Veränderung.

Sieht das der Bezirk auch so?

Ich bekomme jedenfalls sehr viel positive Rückmeldung. Letztendlich ist doch nicht Michael Müller mein Gegner, sondern Stand heute ist es Klaus-Dieter Gröhler von der CDU…

… der aktuelle Wahlkreisabgeordnete.

Der hat bei den letzten Wahlen einen Vorsprung gehabt von 4029 Stimmen. Das ist nicht viel. Meine Antwort darauf ist, dass wir das schaffen können. Charlottenburg-Wilmersdorf ist wahlkampftechnisch strategisch gesprochen ein Swing State. Der ist nicht schwarz. Der war vorher lange rot. Wir haben hier oft Direktmandate gewonnen. Ich bin mir sicher, dass wir den Wahlkreis wieder zurückholen können, wenn wir ein klares Kontrastprogramm zu Klaus-Dieter Gröhler anbieten. Für mich stellt sich die Frage, wofür Klaus-Dieter Gröhler eigentlich steht. Er ist ja sehr nett und sympathisch, die Leute mögen ihn. Aber wofür steht er? Was hat er für Charlottenburg-Wilmersdorf erreicht? Kann er die großen Fragen unserer Zeit eine Antwort geben? Was ist mit Wohnen, mit Bildung, mit der Flüchtlingsfrage, mit dem Kampf um unsere Demokratie? Ihn da zu stellen und ein echtes Kontrastprogramm zu bieten, ist unsere Chance. Und das kann ich. Dieses Land braucht eine Perspektive, eine Vision, eine Botschaft. Und ich glaube, mit meiner Wahl würde man eine starke Botschaft setzen.

Dennoch müssen Sie dafür eine erste Hürde überwinden, und die heißt Michael Müller.

Das stimmt, es geht darum, jetzt die Pi mal Daumen 2500 Mitglieder im Kreis zu überzeugen, die gerade jetzt den Brief bekommen haben und bis zum 27. Oktober abstimmen dürfen. Ich hoffe, sie geben mir eine Chance.

Wie eng ist eigentlich die Zusammenarbeit zwischen einer Staatssekretärin und einem Regierungschef, die gegeneinander kandidieren? Wie geht man miteinander um.

Ich habe gerade einen Sohn bekommen und bin bis Ende dieses Monats in Elternzeit. Ansonsten besorge ich als Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund für Berlin im engen Schulterschluss mit Michael Müller die Mehrheiten im Bundesrat, zum Beispiel bei der Initiative Berlins zu Abbiegeassistenzen bei Lkw, um noch mehr Unfälle zu vermeiden. Beim Bürgerschaftlichen Engagement lässt er mich frei gewähren, da hole ich das Beste für Berlin raus. Ich bin stolz, dass wir als ,Engagementsstadt Europas' ausgezeichnet wurden. Auch im Bereich Internationales gibt es eine enge Zusammenarbeit. Wir waren in der Vergangenheit in den drei Bereichen sehr erfolgreich.

Was erwartet Sie wenn Sie in den Dienst zurückkehren? Fürchten Sie ein Spießrutenlaufen? Die Entscheidung wird dann so oder so gefallen sein.

Ich bin mir sicher, dass es einen fairen Umgang geben wird. Ich habe Michael Müller volle Unterstützung zugesichert, wenn er gewinnen sollte.

Hat er das auch zu Ihnen gesagt? Haben Sie so etwas gehört?

Ich gehe davon aus, dass er das auch so sieht. Ich bin sicher, dass es auch Michael Müller darum geht, dass wir als SPD stark in den Wahlkampf treten können. Das wird schwer genug.

Was würde eigentlich passieren, wenn sich die Partei gegen Sie aussprechen sollte? Was machen Sie dann?

Damit habe ich mich noch nicht auseinandergesetzt. Jetzt konzentriere ich mich darauf, das Vertrauen der Mitglieder in meinem Heimatwahlkreis zu bekommen.

Das heißt, Sie blieben bis zum bitteren Ende Staatssekretärin?

Warum bitter? Ich arbeite weiter daran, gute Politik umzusetzen.