Renate Radoy (91): Bei ihr passt Goethes „Osterspaziergang“ auf ein Ei
Die 91-jährige gebürtige Berlinerin hat trotz ihres hohen Alters eine erstaunlich ruhige Hand: Sie graviert Muster, Motive oder Gedichte in Eierschalen.

Renate Radoy ist gerade im Oster-Endspurt: Nur noch wenige Tage bis zum Fest – und schon seit Weihnachten ist sie damit beschäftigt, neue Ostereier zu bemalen. Die 91-Jährige aus Rüdersdorf hat trotz ihres hohen Alters eine erstaunlich ruhige Hand: Sie graviert Muster, Motive oder Gedichte in Eierschalen. Ist nicht gerade Osterzeit, engagiert sich die gebürtige Berlinerin auf vielen Ebenen für ihre Wahlheimat.
Lesen Sie auch: Corinna Harfouch: Warum sie trotz Hüftschmerzen die neue Berliner Tatort-Kommissarin ist>>
Ostern beginnt für Renate Radoy schon in der Weihnachtszeit. Dann greift die 91 Jahre alte Kunsthandwerkerin aus Rüdersdorf täglich zum Gravurstift und zaubert mit erstaunlich ruhiger Hand filigrane, mosaikartige Muster und Ornamente auf zerbrechliche Eierschalen.
Lesen Sie auch: Ei, ei, ei – dieses Osterfest wird richtig teuer!>>
„Ich habe auch schon Eier mit Adventsmotiven gestaltet, die dann am Weihnachtsbaum hängen“, sagt die gebürtige Berlinerin. Doch am liebsten sind ihr künstlerisch bearbeitete Ostereier. Und da Radoys kleine Kunstwerke so beliebt sind, muss sie schon im Dezember beginnen, um Vorrat zu schaffen.
„Osterspaziergang“: 38 Zeilen in millimetergroßen Buchstaben
Etwa eine Stunde braucht sie für eines ihrer zerbrechlichen Kunstwerke. Ganze drei Stunden dauert es, bis sie Goethes kompletten „Osterspaziergang“ in ein Ei graviert hat – in nur Millimeter kleinen Buchstaben, mit dem bloßen Auge kaum zu lesen.

„Diese Eier kaufen die Leute am liebsten, da habe ich einige Vorbestellungen“, erzählt die Seniorin, die dafür nicht nur durch ihre Brille, sondern zusätzlich noch durch eine Lupe schaut. „Kein Ei gleicht dem anderen, und so ist es jedes Mal spannend, ob die 38 Zeilen des Gedichts auch wirklich draufpassen“, sagt Radoy, die ihre Kunstwerke bei Ausstellungen verkauft.
Bevor es ans Gravieren geht, färbt sie die Eier mit Tinte, die sie mit einem Wattestäbchen aufträgt. „Das ist wie das Malen mit Aquarellfarben“, erklärt sie. Erdfarben seien ihr am liebsten, deswegen bevorzuge sie braune Eier. Zudem würden weiße Eier schneller platzen, so Radoys Erfahrungen.
Das kunstvolle Verzieren von Ostereiern hat Renate Radoy schon als Kind gelernt
Doch aus dieser Misere macht die kreative Seniorin auch noch Kunstwerke: Die kaputten Schalen setzt sie ähnlich einem Puzzle wieder zusammen und verziert sie. „An meinen Scherbeneiern arbeite ich mit Pipette und Holzleim. Das macht mir Spaß.“
Das kunstvolle Verzieren von Ostereiern hat Radoy schon als Kind gelernt. Da hat sie die Eier allerdings klassisch bemalt. „Ich wollte eigentlich Grafikerin werden. Als ich 1948 aus der Schule kam, war daran aber nicht zu denken“, erinnert sie sich. Also wurde Radoy technische Zeichnerin, ein Beruf, der für ihr Hobby ganz gelegen kam.
Die geschickte 91-Jährige begann mit Zeichenfedern Muster auf Ostereier zu malen. Sie beherrscht auch die sorbische Batik- oder die ebenfalls von den Sorben stammende Bossiertechnik mit Wachs. Auch in der Kratztechnik ist sie versiert. Doch das sei ihr zu eintönig, sagt Radoy, die 1958 mit ihrem Mann nach Rüdersdorf gezogen war.
Lesen Sie auch: Schwein gehabt! Der Vormarsch der Afrikanischen Schweinpest in Richtung Berlin ist gestoppt>>
Da sie während der Berufsausbildung das Fräsen, Bohren und Schweißen erlernt hatte, waren dabei auch die Grundlagen für das spätere Gravieren gelegt. „Damit habe ich aber erst nach der Wende angefangen, als die entsprechenden Gerätschaften zu bekommen waren.“ Wirklich Zeit dafür gefunden habe sie allerdings erst vor 20 Jahren, als ihr Mann verstorben sei, bekennt Radoy.
Sie zeichnet Muster oder Motive auf dem Ei nicht vor. „Das kommt alles aus dem Handgelenk und so gleicht kein Ei dem anderen“, sagt die Seniorin. Am liebsten sind ihr die schwungvollen Paisleymuster. Sie graviert aber auch Motive aus dem Museumspark Rüdersdorf, Kirchen der Region oder Denkmäler aus Leipzig, wo Tochter und Enkeltöchter leben. „Wichtig ist, dass die Perspektive stimmt. Das ist bei der Wölbung der Eierschale nicht immer so einfach.“
So hat sie im Laufe der Jahre nicht nur Tausende Ostereier verziert, sondern auch rund 500 Exemplare aus aller Welt gesammelt. Ihre Arbeiten und die Sammlung hat Radoy inzwischen der Gemeinde Rüdersdorf geschenkt.

Sie sollen katalogisiert und in Vitrinen im Museumspark Rüdersdorf dauerhaft ausgestellt werden – als Wertschätzung für die 91-Jährige, bestätigt Stephan Rübsam, Geschäftsführer der Museums- und Kultur GmbH Rüdersdorf. „Obwohl sie keine gebürtige Rüdersdorferin ist, kennt sie hier alle wichtigen Geschichten der Regionalhistorie und ist total engagiert, hat beispielsweise den Theater- und Kulturverein TRS vor Jahren mitgegründet“, erzählt er.
René Kollo oder Sebastian Krumbiegel haben ein Osterei von Renate Radoy
Dank der Ostereierkünstlerin haben Politiker wie Dietmar Woidke und Matthias Platzeck (beide SPD) oder Künstler wie René Kollo oder Sebastian Krumbiegel ein unverwechselbares Geschenk aus Rüdersdorf. „Memory-Eier“ nennt Radoy diese speziellen Kreationen. „Ein Imagefaktor mit Wiedererkennungswert“, sagt Alexander Reetz, Referent der Rüdersdorfer Bürgermeisterin.
Für ihr Engagement sei die 91-Jährige im vergangenen Jahr mit der ersten „Ehrenbank“ der Gemeinde Rüdersdorf ausgezeichnet worden, so Reetz. Auf der habe sie schon ein paar Mal gesessen, bestätigt Radoy. Steht die Bank mit ihrem Namen doch in der Nähe ihres früheren Wohnhauses, das vor Jahren dem Kalkstein-Tagebau weichen musste.
„Für die Entwicklung unseres Vereins und für die Kultur in Rüdersdorf ist Frau Radoy ein wichtiger und unermüdlicher Taktgeber und eine engagierte Künstlerin, mit über 90 Jahren interessiert und engagiert“, lobt Jan Dietrich Jach vom TRS Kulturexpress-Verein.
Lesen Sie auch: Schluss mit Piksen! Berliner Forscher haben Nasenspray gegen Corona erfolgreich getestet>>
In den nächsten Tagen wird Radoy gemeinsam mit Schülern im Bürgerzentrum „Brücke“ in ihrer Nachbarschaft Eier marmorieren und Bäume oder Sträucher vor den Häusern damit schmücken. „Frau Radoy ist nicht zu stoppen“, erzählt Anja Theurich, Leiterin des Bürgerzentrums. „Sie steckt voller Ideen, ist bei all unseren Projekten dabei – ob im Nachbarschaftsgarten, bei Vorträgen zu Heilkräutern, Basteln mit Kindern oder in der Seniorenarbeit.“