Pflege vor dem Kollaps: So werden die Helden in Berlin krank gespart
Corona legt die Schwächen eines Gesundheitssystems offen, das unter Kostendruck auf Verschleiß fährt. Pflegekräfte gehen über Grenzen. Eine Spurensuche.

Die Schicht war hart. 40 Patienten hat Pernilla Hildebrandt während der acht Stunden gezählt. Vielleicht waren es auch mehr. Es ist nicht immer leicht, an einem solchen Abend in der Lichtenberger Rettungsstelle den Überblick zu behalten, bei diesem ständigen Kommen und Gehen: schwere Fälle, unklare Fälle, sie erfordern schnelles Handeln, sicheres Entscheiden, volle Konzentration die ganze Zeit.
Sie waren zu sechst, Hildebrandt und ihre Kolleginnen. „In dieser Schicht“, sagt die 50 Jahre alte Schwedin, „haben ausschließlich examinierte Pflegekräfte gearbeitet.“ Sie selbst eingerechnet. 1992 hat sie ihren Abschluss in Stockholm gemacht. In Berlin wird sie nur als Hilfskraft eingestuft, denn 1992 gab es den Binnenmarkt der EU noch nicht. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) besteht daher auf einer amtlichen Urkunde. Es ist die letzte, die fehlt und die sich nicht beibringen, weil nicht beglaubigen lässt. „Die Direktorin von damals, die sie beglaubigen müsste, ist tot“, sagt sie.
„Lageso reagiert nicht mehr auf meine Anfragen“
Alle anderen Unterlagen hat sie eingereicht, rund 1000 Euro verschlangen die Notarkosten bisher. „Inzwischen reagiert das Lageso nicht mal mehr auf meine Anfragen“, sagt Hildebrandt. Vor zwei Jahren hatte sie sich entschlossen, in ihren Beruf zurückzukehren. Sie sagt, dass sie gern mehr machen würde. „Gerade jetzt, da Not herrscht während der Pandemie.“
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Corona, heißt es, lasse gesellschaftliche Probleme klar hervortreten, wirke wie eine Lupe. Wenn das stimmt, verdichten sich beim Blick auf Pernilla Hildebrandts Fall die Probleme im Gesundheitswesen zu einem glühend heißen Lichtpunkt. Es ist ein Paradox in einer paradoxen Situation. Kliniken ächzen unter der Pandemie, fahren die Regelversorgung herunter. Gleichzeitig werden Kliniken geschlossen. Pflegepersonal wird als systemrelevant eingestuft, zu Helden ernannt. Gleichzeitig ist die Bezahlung schlecht. Es fehlt versiertes Pflegepersonal. Gleichzeitig wird eine Fachkraft abgewiesen, weil ein Stempel unter einem Zeugnis fehlt. „Mir kommt es so vor, als ob mir das Lageso absichtlich Steine in den Weg legt.“
Es ist später Vormittag. Pernilla Hildebrandt hantiert in ihrer Küche, während sie erzählt. Um 14 Uhr beginnt die nächste Schicht. 40 Stunden arbeitet sie pro Woche, 2275 Euro beträgt ihr Monatsgehalt, brutto. „Eigentlich bräuchte ich zwei Jobs, um über die Runden zu kommen“, sagt sie. In Schweden würde sie 800 Euro mehr erhalten, mindestens. „Außerdem sind die Zuschläge höher.“ Schweden ist nicht Berlin. Doch Bürokratie ist auch nicht gleich Bürokratie.
Offene Stellen in der Pflege erst nach neun Monaten mit Fachkraft besetzt
Hildebrandts Bekannte, mit der sie 1994 nach Deutschland kam, arbeitet als voll anerkannte Fachkraft in einem Krankenhaus. In Hamburg. „Das ist ein absoluter Flickenteppich“, sagt Isabell Halletz von der Bundes-AG Ausländische Pflegekräfte (Bagap). „In einem Bundesland wird einer Bewerberin ein Defizit bescheinigt, im anderen gibt es die volle Anerkennung.“ Auch Arbeitgeber stolpern über den Flickenteppich. „Bis eine Fachkraft von außerhalb der EU alle Prozesse so weit durchlaufen hat, dass sie eingesetzt werden kann, vergehen zwölf, manchmal 24 Monate“, sagt Halletz.
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Nicht nur deshalb dauert es durchschnittlich ein Dreivierteljahr, bis eine offene Stelle in der Pflege mit einer Fachkraft besetzt ist. Die Arbeitslosenquote beträgt weniger als ein Prozent. „Beim Fachpersonal haben wir quasi Vollbeschäftigung“, sagt Halletz. Schätzungen zufolge fehlen 30.000 Vollzeitkräfte allein in der Altenpflege. In Heimen und Krankenhäusern liegt der Bedarf insgesamt im sechsstelligen Bereich. Und die Aussichten sind alles andere als gut.
Der Pflege-Report 2019 geht davon aus, dass in Deutschland bis 2030 rund 130.000 Pflegekräfte mehr benötigt werden. „Wir müssen daher schauen, Fachpersonal aus den eigenen Reihen zu gewinnen, indem wir Hilfskräfte weiterqualifizieren“, sagt Halletz. „Zum Beispiel durch eine Fachkraftausbildung in Teilzeit.“
Bis zu 120 Überstunden sind keine Seltenheit
Pernilla Hildebrandt wüsste gar nicht, wann sie das machen sollte, sich weiterbilden – ganz abgesehen vom Warum; sie verfügt ja bereits über die nötige Qualifikation. 30 Überstunden hat sie angesammelt. „Nur“, sagt sie. „Manche Kolleginnen kommen auf 100 oder sogar 120 Überstunden.“
Die Situation hat sich während der Pandemie verschärft, doch der Anruf in der Freizeit, die Bitte, kurzfristig einzuspringen, weil Kollegen erkrankt sind, war schon vor Corona die Regel. Astrid Gedigk hat im März Buch geführt. „Ich bin fünfmal gefragt worden, ob ich am nächsten Tag eine Schicht übernehmen kann“, erzählt die Krankenschwester. „Manchmal wird man sogar vormittags angerufen: ,Kannst du heute einspringen?‘“

Foto: Berliner KURIER/Markus Wächter
Astrid Gedigk steht an einem trüben Nachmittag in der Luisenstraße. Sie hat ein Schild aus Pappe geschultert, das einem Ortsschild nachempfunden ist. „Charité Campus Mitte“ steht darauf. Als Pflegefachkraft arbeitet Gedigk auf der neurologischen Station der Uniklinik, sie hatte Nachtschicht, will jetzt aber mit einem Dutzend Kollegen für eine Foto-Aktion posieren. Im Hintergrund das Bettenhochhaus der Charité, grau und mächtig. Einige tragen rote T-Shirts der Gewerkschaft Verdi und halten Zettel in die Kamera: PPR 2.0, das ist ihre Botschaft.
PPR 2.0 steht für Pflegepersonal-Regelung und lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Patienten werden täglich in Leistungsstufen eingeteilt, für die eine bestimmte Zeit aufgewendet werden muss. Daraus ergibt sich der Personalbedarf. Verdi, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Deutsche Pflegerat haben sich das ausgedacht. Die Politik wollte einen Vorschlag aus der Praxis als Beitrag zur Konzertierten Aktion Pflege.
Kritik an Jens Spahn und den Untergrenzen für Pflegepersonal
Doch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will PPR 2.0 nicht. Astrid Gedigk vermutet, dass er den Nutzen nicht erkennt, den sie ihm aber erklären könnte, jetzt sofort, hier vor der Charité. Und bei der Gelegenheit würde sie dem CDU-Politiker erläutern, wie die Untergrenzen für Pflegepersonal funktionieren, die er Anfang 2020 eingeführt hat: gar nicht. „Im Moment haben wir keine Vorgaben.“ Zehn bis zwölf Patienten versorgt sie auf ihrer Station in der Frühschicht. „In der Nacht sind es mehr. Und erheblich mehr, wenn eine Kollegin krank ist“, sagt Astrid Gedigk. Dann heißt es: laufen, schauen, kümmern, laufen.
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Als die Untergrenzen neu waren, „da war es zwei Monate lang okay“, sagt Gedigk, bis während der Pandemie Personal krank wurde oder den Job aufgegeben hat. Wozu der Mangel führt, zeigen Umfragen. Mindestens ein Drittel der Fachkräfte denkt regelmäßig über einen Ausstieg nach.
Christel Bienstein macht das Dilemma an anderen Zahlen deutlich. Die Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) rechnet vor: „Durchschnittlich versorgt eine Pflegefachperson in der Nacht 28 Patientinnen und Patienten. Das sind zum Teil schwerkranke, multimorbide Menschen, also mit mehreren Erkrankungen.“ In Pflegeheimen müsse sich eine Kraft nachts im Schnitt sogar um 52 Bewohner kümmern. „Davon haben um die 70 Prozent eine demenzielle Erkrankung.“
Die Konzertierte Aktion Pflege sei deshalb wichtig, sagt die Professorin. Allerdings: „Die darin festgeschriebenen zehn Prozent mehr Auszubildende bis 2030 bereiten uns Sorgen.“ Es gebe nicht genug Pflegelehrer. Bienstein sagt: „Die Schulen können den Bedarf nicht decken, viele können keine zwei Kurse parallel anbieten.“
Wie entscheidend die Qualifizierung für die Beschäftigten selbst ist, zeigt eine Umfrage im Auftrag des Bundesfamilienministeriums unter voll ausgebildeten Pflegekräften: Am meisten Motivation beziehen sie aus „Fachlichkeit“. Danach folgen „Respekt und Würde“. Für Bienstein ist klar: „Wir möchten in den nächsten zehn Jahren 30 Prozent Bewerberinnen und Bewerber mehr akademisch qualifizieren, denn Studien belegen, dass junge Leute nicht so schnell aussteigen, wenn sie ein akademisches Studium absolviert haben.“
Viele Azubis brechen die Ausbildung ab
In manchen Bundesländern werden Auszubildende zu den Fachkräften gezählt, um die Quote zu verbessern. Um das Programm zu schaffen, werden sie ohnehin vielerorts stärker eingespannt, als es einer Lehrzeit guttäte. Wie viele Jugendliche ihre Ausbildung abbrechen, variiert je nach Region. „Wir hören derzeit aus Süddeutschland, dass die Abbrecherquote sehr hoch ist. Aber auch in Hamburg und Schleswig-Holstein gehen die Ausbildungszahlen zurück“, sagt Bienstein, Geschätzt erreicht ein knappes Drittel nicht den Abschluss. „Bisher konnten die zuständigen Ministerien keine gesicherten Zahlen vorlegen.“
Diejenigen, die über eine hohe Qualifikation verfügen, dürfen sie oft nicht anwenden. Bienstein sagt: „Zum Beispiel bei der Wundbehandlung oder der Behandlung von Menschen mit Diabetes dürfen die Kolleginnen und Kollegen nicht ohne Zustimmung der Ärztinnen und Ärzte tätig werden. Das schadet der Versorgung und hinterlässt zum Teil schwere Kränkungen.“
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Pernilla Hildebrandt hat sich von ihrem Oberarzt immerhin schriftlich geben lassen, dass sie einige Aufgaben übernehmen darf, für die sie qualifiziert ist: Spitzen setzen etwa, Venenkatheter legen. „Ich dürfte sofort wie eine Fachkraft arbeiten“, sagt Hildebrandt, „wenn es nach der Pflegedienstleitung ginge.“ Doch nach der geht es nicht.
Dana Lützkendorf kann nachfühlen, wie es der Kollegin geht. Sie ist Personalrätin an der Charité. Bis Dezember war sie als Intensivpflegerin im Einsatz. „Ich übernehme hin und wieder Sonderdienste“, sagt sie. Gerade hat sie sich bei den Kolleginnen dafür bedankt, dass sie an der Foto-Aktion vor dem Bettenhochhaus teilgenommen haben. Jetzt sagt die Personalrätin: „Ich finde meinen Beruf toll, würde ihn immer wieder ergreifen und mir wünschen, dass viele das genauso sehen. Der Beruf ist vielseitig, man trägt Verantwortung.“
Personaldecke auf Intensivstationen ist dünn
Auf der Intensivstation fechten sie täglich einen Kampf mit dem Tod aus. Das ist nicht einfach, psychisch nicht, weil dieser Kampf auch verloren geht. Und körperlich nicht, weil Krankenpflege harte Arbeit ist, weil Patienten gehoben, gestützt, gedreht werden müssen. Lützkendorf erzählt: „Im Moment löst sich auch auf der Intensivstation der Personalschlüssel auf.“ Personalschlüssel heißt: Eine Intensivschwester betreut am Tag zwei Patienten. „Die Finanzierung ist derart knapp bemessen, die Personaldecke so dünn, dass das System zusammenbricht, wenn jemand krank wird.“
Dann stellt es sich ein, dieses Gefühl, nach Hause gehen und sich eingestehen zu müssen: „Du hast es geschafft, aber nicht in der Weise, wie du es gelernt hast.“ Astrid Gedigk hat das so formuliert, und Dana Lützkendorf erzählt nun, dass sie oft schon im Bett lag, als ihr das Unterbewusstsein meldete, sie müsse der Kollegin in der Nachtschicht noch etwas Wichtiges sagen. „Dann habe ich auf der Station angerufen.“ Immer wieder bekommt Lützkendorf von Kolleginnen zu hören, dass sie unter diesen Umständen die Rente nicht erreichen werden und sich deshalb anderweitig orientieren.
„Viele sagen, sie schaffen es nicht, in Vollzeit zu arbeiten“, berichtet Dietmar Erdmeier von Verdi, der auch die Versicherten in der Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege vertritt. „In der Altenpflege zum Beispiel liegt die Teilzeitquote bei mehr als zwei Dritteln.“ Schätzungen zufolge würden weit mehr als 100.000 Stellen herausspringen, wenn lediglich ein Drittel in Teilzeit wären; so ist die übliche Rate in den meisten anderen Berufen.
Laut einer Studie von 2018 könnten in der Alten- und Krankenpflege mindestens 120.000 Aussteiger zurückgewonnen werden – bei besserer Bezahlung, weniger Druck für die Psyche und technischer Hilfe für den Körper. „Stille Reserve“, nennt Erdmeier das. Verdi will sie heben, sagt er und spricht dann vom Wettbewerb, der in die falsche Richtung laufe, von der Zunahme privater Unternehmen im Gesundheitswesen, die das System auf Rendite trimmen, die Kosten drücken. „Unser Ziel ist, den Wettbewerb von wenig Personal und schlechten Bedingungen durch einen Wettbewerb um Qualität zu ersetzen. Deshalb hatten wir uns in der Altenpflege sehr für einen allgemein gültigen Tarifvertrag starkgemacht.“ Die Caritas stellte sich dagegen.
Pernilla Hildebrandt ist sich nicht mehr sicher, ob sie weiter kämpfen soll. „Ich überlege, ob ich nicht zwischen Deutschland und Schweden pendle.“ Eine Woche Berlin, eine Woche Växjö. „Das ist ein größeres Projekt.“ Ein andermal vielleicht mehr davon. Jetzt muss sie los. In einer Stunde beginnt ihre Schicht. Wer weiß, wie viele Patienten es diesmal werden.