Mutmaßlicher NS-Massenmörder (99) kommt wohl ohne Prozess davon
Er soll als Wachmann eines Kriegsgefangenenlagers der Wehrmacht gearbeitet haben. Der heute 99-Jährige sei „aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft verhandlungsunfähig“, heißt es.

Die letzten Zeugen des Holocaust und der NS-Kriegsgräuel sterben aus. Aber auch die Täter werden immer älter –so alt, dass ihnen nicht mehr der Prozess gemacht werden kann. Wie in diesem Fall aus Berlin.
Der Betroffene soll als Jugendlicher in einem NS-Gefangenenlager den Massenmord mit ermöglicht haben. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat den 99-Jährigen angeklagt. Doch zum Prozess kommt es nicht.
Ein mutmaßlicher Wachmann eines Kriegsgefangenenlagers der Wehrmacht kommt nicht in Berlin vor Gericht. Der heute 99-Jährige sei „aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft verhandlungsunfähig“, teilte das Landgericht Berlin am Freitag mit. Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte den Mann wegen Beihilfe zum grausamen Mord in mindestens 809 Fällen angeklagt.
Mutmaßlicher NS-Massenmörder war im Lager Wladimir-Wolynsk auf dem Gebiet der heutigen Westukraine eingesetzt
Als junger Mann soll er demnach von Ende November 1942 bis zum 20. März 1943 im Lager Wladimir-Wolynsk auf dem Gebiet der heutigen Westukraine eingesetzt gewesen sein, wo sowjetische Soldaten unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten wurden. Viele Gefangene verhungerten oder starben an Krankheiten.
Laut Staatsanwaltschaft war der Beschuldigte als Angehöriger eines Landesschützenbataillons der Wehrmacht unter anderem für die Bewachung der dort untergebrachten Kriegsgefangenen zuständig. Daneben sei er als einfacher Soldat in der Innenverwaltung des Lagers tätig gewesen.
Er habe einen dezidierten Einblick in das Lagergeschehen gehabt. Zudem sei ihm bewusst gewesen, dass er durch seine Tätigkeiten „einen reibungslosen Ablauf der angeordneten Massenvernichtung unterstützt habe“, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft in der Anklage vom 5. Mai 2022.
Jugendkammer war für mutmaßlichen NS-Massenmörder zuständig
Mitte August hieß es vom Landgericht, bei der Staatsanwaltschaft seien Nachermittlungen in Auftrag gegeben. Nun teilte eine Gerichtssprecherin mit, aufgrund des Alters des Beschuldigten habe die Staatsanwaltschaft ein Gutachten eingeholt zur Frage der Verhandlungsfähigkeit. Ein Sachverständiger sei zu dem Ergebnis gekommen, dass der inzwischen 99-Jährige nicht verhandlungsfähig und eine Besserung nicht zu erwarten sei. Diesen Ausführungen sei das Gericht „vollumfänglich gefolgt“, hieß es nun.
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Für den Fall war eine Jugendkammer des Landgerichts zuständig, weil der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt noch unter 21 Jahre alt war. Damit gilt er nach dem heutigen Strafrecht als Heranwachsender. Die Staatsanwaltschaft wollte sich noch nicht zu der Entscheidung äußern. Dafür sei es noch zu früh, sagte eine Sprecherin.
Nach der Verurteilung des Wachmanns John Demjanjuk im Jahr 2011 wegen Beihilfe zu tausendfachen Morden werden auch Wachleute niedriger Ränge strafrechtlich verfolgt. Nach dieser geänderten Rechtspraxis wird die einfache Wachtätigkeit in einem KZ, in dem systematisch Menschen ermordet wurden, als Beihilfe zum Mord gewertet.
Ende Juni war in Brandenburg ein ehemaliger Wachmann des KZ Sachsenhausen wegen Beihilfe zum Mord an tausenden Häftlingen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.