Das Engelbecken ist bei Ausflüglern sehr beliebt.
Das Engelbecken ist bei Ausflüglern sehr beliebt. Foto: dpa/Stache

Die Merkwürdigkeiten begannen, als ein Boot auf dem Engelbecken in Mitte auftauchte. Niemals gibt es auf dem Teich Boote. Aber dann dieses kleine Gefährt. Darin zwei Männer. Was tun die da? Fahren hin und her. Nehmen die Proben? Seltsam. Wer sind die? Auf einmal erscheint ein großer weißhaariger Herr auf und redet mit den Unbekannten. Ist das nicht Wieland Giebel? Der wohnt seit 30 Jahren am Engelbecken, weiß alles darüber, kennt jeden – und zieht sicherlich nicht nur im Luisenstädtischen Bürgerverein die Fäden?

Man weiß in der Nachbarschaft, der umtriebige Herr Giebel findet es ungünstig, dass so viele Schildkröten im Engelbecken leben. Und Wollhandkrabben. Und Koi-Karpfen und weitere Tierarten, die nie und nimmer auf natürliche Weise in das zu- und abflusslose Gewässer gekommen sein können. Hat der nicht immer gesagt, die müssten raus? Was kann das bedeuten, außer: Die gehören beseitigt!

Es blieb nicht verborgen, dass die beiden Männer im Boot vom Fischereiamt kamen. Von „denen da oben“ sozusagen. Von der Verwaltung. Und Giebel hat denen – wie soll es anders sein – gesagt, sie sollten das Wasser ablassen. Alle Tiere würden sterben. Ein weiteres Gerücht ging so: Die Pflege von Park und Gewässer sei dem Bezirksamt schon lange zu teuer, da könnte man doch das Gefühl haben, die wollten den Teich ganz trockenlegen.

Im Engelbecken in Kreuzberg  leben inzwischen zahlreiche Wasserschildkröten. Wer die Tiere dort reingesetzt hat, ist nicht bekannt. 
Foto: imago images/Wagner
Im Engelbecken in Kreuzberg leben inzwischen zahlreiche Wasserschildkröten. Wer die Tiere dort reingesetzt hat, ist nicht bekannt. 

Wenige Tage nach der Begegnung am See klebten an Dutzenden Türen, Wänden, Pfeilern rund um das Engelbecken Flugblätter – anonym, ohne Hinweis auf die Urheberschaft. Doch das Ungeheuerliche stand jetzt Schwarz auf Weiß: „Das Engelbecken braucht unsere Hilfe! Alle Fische und Schildkröten werden getötet.“ Das Fischereiamt werde in der Nacht vom 13. zum 14. Juli Netze aufstellen. „Alles, was sich über Nacht eingefangen hat – Fische, Schildkröten, aber auch die jungen Schwäne – werden entsorgt. Anschließend werden Raubfische eingesetzt, um die kleinen Wassertiere zu fressen, die nicht ins Netz gegangen sind.“

Und: „Seit einigen Wochen hat das Engelbecken einen extrem niedrigen Wasserstand. Die Ursache hierfür ist nicht bekannt. Es ist unklar, ob die in Zusammenhang mit der geplanten Abfischung steht.“ Die Engelbecken-Verschwörung war entlarvt. Die Anonymen riefen die Anwohner auf, beim Bezirksamt zu protestieren.

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Heike Tielscher vom Grünflächenamt Mitte stellte in einer allen möglichen Interessierten zugänglichen Mail schnell und sachlich klar: Der Wasserspiegel des Engelbeckens steigt und sinkt mit dem Grundwasserstand. Daher das Absinken um 25 Zentimeter nach Wochen der Dürre seit März. Auffüllen mit Leitungswasser sei sinnlos. Wolle man den Wasserstand um 20 Zentimeter heben, müsste man zwei Millionen Liter einpumpen – die dann umgehend im Untergrund verschwänden. Im Übrigen werde die Qualität und Schadstoffbelastung von Wasser und Sedimenten bereits seit Herbst 2019 untersucht.

Auch das geplante Tiermassaker stellt sich im Amtsschreiben anders dar. Das Fischereiamt habe einen völlig überhöhten und unausgewogenen Fischbestand festgestellt, da lebten zum Beispiel Exoten wie der Afrikanische Zwergwels. Und: „Gegenwärtig finden mit dem Fischereiamt Abstimmungen statt, um die Abfischung und einen moderaten Raubfischbesatz vorzubereiten.“

Mit anderen Worten: Das Bezirksamt bemühte sich, dem Biotop ein natürliches Gleichgewicht zu geben. Von den Mühen und dem Wohlwollen des Bezirksamtes kündet auch der ungewöhnlich gute Pflegezustand der gesamten Grünanlage. Erst kürzlich setzte der RBB das Ensemble Michaelkirchplatz und Engelbecken auf Platz eins der Berliner Plätze „zum Entdecken“.

Wieland Giebel, der unversehens zum Oberhaupt der Engelbecken-Verschwörung geworden war, sorgt sich seit langem um den Zustand des geliebten Gewässers, auf das er täglich von seinem Schreibtisch aus blickt. Den Sommer mit seiner „Konjunktur irrationaler Vorstellungen“ hat er in seinem Blog dokumentiert. Da habe sich jemand etwas ausgedacht und dann hineingesteigert.

Bei einem Spaziergang an einem der letzten Dezembertage um das Engelbecken erzählt er, früher sei das Wasser viel klarer gewesen. Der Gewässerboden habe sich unter den Füßen fest angefühlt, heute stehe man knöcheltief in ekligem Schlamm. Bei der jüngsten Säuberungsaktion im Herbst haben ein paar Wackere unter anderem zwei E-Roller, ein Notebook, einen Einkaufswagen und Hunderte Flaschen aus dem Gewässer geholt – was Leute neben den Inhalten ihrer Aquarien und Terrarien eben loswerden wollten.

Früher habe es im Teich auch Seerosen gegeben, sagt er wehmütig, und einen breiten Schilfgürtel. Von dem blieb ein kläglicher Rest am Café übrig. Vor allem die Schildkröten fressen Seerosen- und Schilfwurzeln. Tatsächlich könnte er sich ein besseres Quartier für die Tiere vorstellen, in Mecklenburg suche man für verkrautete Gewässer solche Tiere.

Wieland Giebel hat versucht, mit der aufgeregten Tierschützerschar ins Gespräch zu kommen, denn eigentlich freut er sich, wenn sich Leute engagieren. Die Mitarbeit im Verein komme für die Einzelkämpfer nicht infrage, ihre Organisationsform ist die WhatsApp-Gruppe.

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Auf den anderen, größeren Kampfplätzen des Jahres, dort, wo es gegen die Corona-Beschränkungen ging, verbreiteten Tamara aus der Eifel und Jana aus Kassel ihre speziellen Ansichten, die längst nicht aus der Welt sind. Am Engelbecken hat sich die Verschwörungstheorie schnell als vollkommen ausgedacht herausgestellt.

Der Wasserstand am Engelbecken ist derzeit hoch, Kormorane, Schwäne, Enten, viele Möwen, ein Fischreiher sind zu sehen. Die etwa 60 Schildkröten haben sich in die Tiefe verzogen. Die angekündigte Renaturierung lässt auf sich warten. Eine Familie mit Kleinkind wirft tütenweise Brot ins Wasser – ein Hauptgrund für den miserablen Zustand. Man kann etwas auch zu Tode lieben.

Eine Schrippe schaukelt eine Weile auf dem Wasser. Dann sinkt sie hinab: Wieder wird Brot zu neuem Schlamm.