Nachrichten von Micha
Meine Flucht aus der DDR durch die Kanalisation
Michael Synowzik ist 13 Jahre alt, als er am Checkpoint Charlie die Flucht aus Ost-Berlin wagt. Ab dem 10. August kann man seine Geschichte miterleben.

Michael Synowzik ist 13 Jahre alt, als in seiner Heimatstadt Berlin die Mauer gebaut wird. Mitten in den Sommerferien spielt sich vor seinen Augen Weltgeschichte ab. Die Bilder der Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie gingen um die Welt: Im Oktober 1961 standen sich sowjetische und amerikanische Panzer am Grenzübergang in der Friedrichstraße bedrohlich nah gegenüber.
Genau zu diesem Zeitpunkt entschließt sich auch Michas Vater zur Flucht aus Ost-Berlin. Ausgerechnet in der Kanalisation unterhalb des Checkpoints Charlie beginnt ihr gefährlicher Weg in ein neues Leben.
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Aufwühlende Fluchtgeschichte aus der DDR
Ein Projekt der Stiftung Berliner Mauer erzählt über 60 Jahre nach diesen aufwühlenden Wochen Michaels Geschichte anhand von Textnachrichten. Ohne erhobenen Zeigefinger sollen vor allem junge Leute, aber auch Erwachsene, für Geschichte sensibilisiert werden und mit Micha seine Flucht nachempfinden. Schon jetzt kann man sich für das Projekt online anmelden. Ab dem 10. August bis Oktober gibt es dann regelmäßig Nachrichten von Micha per WhatsApp, Telegram oder iMessage aufs Handy.
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Mit seinem Vater lebt Michael Synowzik vor dem Mauerbau in der Reinhardtstraße 47 in Mitte. „Unser Lieblingsspielplatz war der Humboldthafen“, erinnert sich der heute 74-Jährige. Die Kinder toben in den Ruinen, der kleine Michael und sein sechs Jahre älterer Bruder, für den er wohl eher ein geliebter Klotz am Bein gewesen sei, führen zunächst ein freies Leben. Als der Vater, ein gelernter Schneider, jedoch nicht in die SED eintreten will, wird er ans andere Ende der Stadt strafversetzt und muss im Kino Karten abreißen. Die Jungs sind in Mitte oft auf sich allein gestellt, spielen in den Trümmern der Invalidenkirche. Abends schneidert der Vater in Heimarbeit und hat so ein Auskommen.
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Ein Großteil der Familie lebt nach dem Krieg in Westdeutschland oder in West-Berlin. Für Michael ist es normal, mit dem Rad nach Charlottenburg rüberzufahren. Die Annehmlichkeiten im Westen kennt er gut.
Menschen verlassen zuhauf die DDR
Schon im Jahr 1960 waren etwa 200.000 Menschen dauerhaft in den Westen gegangen, die DDR dagegen stand kurz vor dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenbruch. Am 12. August 1961 fasste der Ministerrat der DDR den Beschluss: „Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und West-Berlins wird eine solche Kontrolle an der Grenze der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.“
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Damit ist der Bau der Berliner Mauer beschlossene Sache. In den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 beginnen die Arbeiten, erste Absperrungen – zunächst provisorisch – werden errichtet. In den folgenden Tagen und Wochen mitten in der Ferienzeit wird aus der Stacheldrahtgrenze eine Mauer aus Betonplatten und Hohlblocksteinen. Fenster und Hauseingänge direkt an der Grenze werden zugemauert.

Micha, wie ihn alle nennen, erlebt den plötzlichen Beginn des Mauerbaus außerhalb von Berlin. Es sei ein Schock gewesen, als er bei der Rückkehr Tatsachen vorgefunden habe, die sein Leben drastisch verändern sollten, sagt er rückblickend. Die Konflikte mit dem Staat, die der Vater ausfocht, der Unwille, sich in Raster zu fügen, sie werden über Nacht noch bedeutungsschwerer.
Micha musste in die Pionierorganisation eintreten, wenn zu Hause jemand Rias hört, wird er angehalten, er solle sich Hilfe beim Pionierleiter holen. Das Misstrauen gegeneinander und immer neue Regeln, die es zu befolgen galt, befeuern das Unwohlsein des Jungen. „Ich mochte denen einfach nicht mehr glauben“, sagt Michael Synowzik.

Flucht aus der DDR durch die Kanalisation
Nachdem zunächst Michaels Bruder im September 1961 mit Freunden durch die Kanalisation in den Westen geflüchtet war, wollte es ihm sein Vater mit dem jüngeren Sohn gleichtun.
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Micha und seine Familie haben Angst vor einer Zukunft in der DDR. Was wäre, wenn der Vater verhaftet würde? Wenn Micha zu einer linientreuen Familie oder ins Heim käme? „Die Erwachsenen haben Pläne geschmiedet und mich schnell einbezogen“, erinnert Michael Synowzik sich. „Michachen, schaffst du das alles?“, habe sein Vater immer wieder gefragt und ihm eingebläut, bloß mit niemandem über die Fluchtpläne zu sprechen. Wie ein kleines Abenteuer habe sich das alles angefühlt.

Ausgerechnet die Kanalisation unterhalb der Zimmerstraße am Checkpoint Charlie wählen die Erwachsenen als Fluchtroute aus. „Wenn wir entdeckt werden, würden sie uns unter den Augen der GIs vielleicht nicht gleich erschießen“, so die Überlegung.
Lage an der DDR-Grenze am Checkpoint Charlie spitzt sich zu
Während Michaels Vater die Flucht plant, spitzt sich bis zum Oktober 1961 die Lage an der Berliner Grenze zu. Amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie stehen sowjetischen Panzern gegenüber. DDR-Grenzposten hatten zuvor versucht, Repräsentanten der Westalliierten bei Einfahrt in den sowjetischen Sektor zu kontrollieren. 16 Stunden hielt man den Atem an, die beiden Atommächte in direkter Konfrontation. Eine brenzlige Situation.
Im Untergrund wagen Micha und sein Vater ausgerechnet jetzt die Flucht durch die Kanalisation in den Westen. Ob sie gelingt, soll hier nicht verraten werden. Schließlich soll die Spannung, mit der das Messenger-Projekt „Nachricht von Micha“ arbeitet, bis zum Schluss erhalten bleiben.

Nur so viel darf verraten werden: Michael blickt nicht im Zorn zurück auf seine Zeit der Flucht. Er habe einen Schlussstrich gezogen, sagt er. Und er freue sich, seinen Teil dazu beitragen zu können, dass ein Wimpernschlag deutscher Geschichte nicht verloren geht. „Heute bin ich angekommen“, sagt Michael Synowzik.
Wer die Zeit des Mauerbaus und Michas Flucht auf dem Handy erleben will, kann sich hier dazu anmelden. Die ersten Nachrichten von Micha gibt es ab dem 10. August.