Letzte Runde im Mommsen-Eck? Der traurige Abschied der Berliner Eckkneipen
Nicht nur in Berlin schließen immer mehr Lokale. Warum damit auch ein Stück der Geschichte unserer Stadt verloren geht.

Liebe Leserin und lieber Leser, neulich war ich mit einer Freundin im Alt-Berliner Wirtshaus Henne am Leuschnerdamm. Was war das für ein gemütlicher Abend in einem Lokal, das 115 Jahre auf dem Buckel hat. Die Kreuzberger Kult-Kneipe hat zwei Weltkriege überlebt und stand 28 Jahre direkt an der Mauer. Dutzende Fotos an den Wänden erzählen Berliner, Kreuzberger und „Henne“-Geschichten und zeigen prominente Gäste, die sich hier wohlfühlten. Kneipen gehören zu Berlin wie Brandenburger Tor und Alexanderplatz.
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Mommsen-Eck und Co.: Immer wieder müssen Eckkneipen schließen
Aber leider lese ich ständig, dass die gute alte Eck-Kneipe vom Aussterben bedroht ist. Am 29. April schließt das Mommsen-Eck in Charlottenburg für immer seine Bierhähne. Über Jahrzehnte hinweg hat sich das „Haus der 100 Biere“ seinen Urberliner Charme erhalten. Bertolt Brecht und Erich Kästner kehrten hier ein, Willy Brandt gönnte sich ein Feierabendbier, Marlene Dietrich und Romy Schneider waren genauso Gäste wie Udo Jürgens, der es genoss, einfach mal in Ruhe ein Bier zu trinken. An die über 80 berühmten Gäste im Laufe der Jahrzehnte erinnerten Messingschilder an Bänken und Stühlen. Wo werden sie bleiben?
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Es heißt, eine Investorengruppe wolle am Hindemithplatz etwas Neues, Hippes, Cooles. Kein Platz für Tradition? Im Wedding schließt die Hertha-Kultkneipe „Kugelblitz" für immer. Viele der Kneipen verschwinden sang- und klanglos.
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Kneipen sind für mich seit Studentenzeiten Orte der gelebten Demokratie. Alle Gäste sind gleich. Bier statt bunter Getränke mit Schirmchen und Schnickschnack, Würstchen mit Kartoffelsalat statt Sushi. Für Frau Gernegroß und Herrn Prahlhans sind Kneipenräume zu klein.
Mit den Eckkneipen geht ein Stück Kiez-Geschichte verloren
Und doch werden die Eckkneipen immer weniger. Keine typisch Berliner Erscheinung, im ganzen Land verabschieden sich Wirtinnen und Wirte und laden oftmals mit schwerem Herzen zur allerletzten Runde ein. Auch in England und Wales werden – laut einem Zeitungsbericht – die Pubs immer weniger.
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Kann mir das jemand erklären? Brauchen wir diese Feierabend-Haltestellen, Orte des Austauschs, Treffpunkte, Kontaktbörsen, Lebensräume nicht mehr? Ist die pure gemütliche Wirtshaus-Atmosphäre hoffnungslos altmodisch? Ist es so schwer oder gar unmöglich, Tradition und Innovation zu vereinen? Oder steht der Abschied vom „sozialen Wohnzimmer Kneipe“ für das Auseinanderfallen der Gesellschaft? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, weiß aber, dass sich mit fast jeder Eckkneipe ein Stück Kiez-Geschichte verabschiedet.
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Vermutlich war die Pandemie ein Sargnagel für viele dieser kleinen Gastronomie-Betriebe. Nun kommen neue Krisenfolgen obendrauf. Hinzu kommt, dass eine Kneipe harte Arbeit bedeutet und ältere Wirte keinen Nachwuchs finden. Kneipen gehören zur Kultur dieser Stadt, die von und mit ihrer Vielfalt lebt. Ich würde gern jede einzelne auf die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Biotope des sozialen Zusammenlebens setzen. Wollen wir darüber reden? Dann treffen wir uns in der nächstgelegenen Eckkneipe!
Ihre Sabine Stickforth
KURIER-Autorin Sabine Stickforth schreibt jeden Dienstag über das Leben über 50 in Berlin.
Anregungen an wirvonhier@berlinerverlag.com.