Norbert Martins (73) fotografiert seit 46 Jahren Wandbilder in Berlin.
Norbert Martins (73) fotografiert seit 46 Jahren Wandbilder in Berlin. Foto: Sabine Gudath

Sie sind überall im Stadtbild zu finden – und gerade in Berlin so präsent, dass viele sie beim Gang durch die Straßen kaum wahrnehmen: Wandbilder an den Fassaden von Häusern. Oft sind die Gemälde schon aufgrund ihrer Größe ein Hingucker, doch sie sind auch vergängliche Kunstwerke, werden immer wieder erneuert und durch neue Bilder ersetzt. Norbert Martins aus Schildow hat es sich zur Aufgabe gemacht, Wandbilder zu fotografieren. Über 900 Motive hat er festgehalten, viele davon sind inzwischen verschwunden. Sein Archiv ist ein Stück Berliner Kunstgeschichte – dem KURIER gewährte er Einblicke in die außergewöhnliche Sammlung.

Zu dem besonderen Hobby kam Martins, der damals im Westteil Berlins lebte, durch Zufall. 1975 stieß er auf das erste Wandbild. „Ich war mit meiner Frau spazieren im Tiergarten – und sah ein Gemälde von Ben Wagin, den bekannten ,Weltbaum I.“, sagt er. „Ich dachte: Das ist ja schön, fotografierst du es mal.“ Nur ein, zwei Fotos habe er gemacht. Nach und nach entdeckte er aber immer mehr Bilder. „Weil ich aber nicht gern spazieren gehe, kam meine Frau auf die Idee, den damaligen Bausenator anzuschreiben, um weitere Standorte solcher Bilder zu erfahren.“

Am Murtzaner Ring prangt dieses Bild des Spaniers Okuda San Miguel, das erst 2019 im Rahmen des „Mural Fest“ entstand.
Am Murtzaner Ring prangt dieses Bild des Spaniers Okuda San Miguel, das erst 2019 im Rahmen des „Mural Fest“ entstand. Foto: zVg/Norbert Martins

Zurück kam eine Liste mit 15 Adressen. „Ich fuhr sie ab, fotografierte die Gemälde.“ Martins, der bei der BEWAG arbeitete, begeisterte vor allem die Umsetzung der riesigen Kunstwerke– wie schaffen es die Künstler, ihre Bilder in so großen Formaten an die Wände zu bringen? „Also schrieb ich die Maler an – und geriet wie beim Schneeballeffekt nach und nach in das ganze Thema hinein.“ Immer mehr Bilder kamen hinzu, denn für Fotografie hatte sich der heute 73-Jährige schon in der Kindheit begeistert. „Mein Vater hatte mir zu Hause schon eine kleine Dunkelkammer eingerichtet, als ich noch ein kleiner Junge war.“

Jedes seiner Fotos speist Norbert Martins am Rechner in sein Archiv ein und versieht es mit einem Datensatz, in dem alle wichtigen Informationen zum Gemälde erfasst sind.
Jedes seiner Fotos speist Norbert Martins am Rechner in sein Archiv ein und versieht es mit einem Datensatz, in dem alle wichtigen Informationen zum Gemälde erfasst sind. Foto: Sabine Gudath

Im Jahr 1989 hatte Martins so viele Bilder geschossen, dass er sein erstes Buch „Giebelfantasien“ auf den Markt brachte. „Als das Buch raus war, fiel die Mauer.“ Er lacht. Damals, sagt er, sei plötzlich „alles wieder von vorne losgegangen“. Denn plötzlich stand eine neue Welt der Wandgemälde offen, Martins konnte den Osten erkunden. Auch hier stieß er auf neue Bilder, auf ein Architektur-Archiv in Berlin-Buch. „In Ostberlin waren drei Prozent der Bausummen für Kunst vorgesehen. Jeder Künstler durfte mal ran. Deshalb war alles sehr gut dokumentiert.“ Die Bilder, die er fand, seien aber anders gewesen als erwartet. „Ich habe damit gerechnet, dass sehr viele politische Botschaften darin steckten. Pioniere oder Motive zur russischen Freundschaft. Aber die Künstler wollten sich nie auf eine bestimmte politische Aussage festnageln lassen – und Druck wurde auch nicht ausgeübt.“

In der Maserung dieses Fleisch-Stückes, gemalt von Die Dixon, Size Two und Mario Mankey, verbergen sich die Berliner Bezirksgrenzen, das Messer steht für die deutsche Teilung.
In der Maserung dieses Fleisch-Stückes, gemalt von Die Dixon, Size Two und Mario Mankey, verbergen sich die Berliner Bezirksgrenzen, das Messer steht für die deutsche Teilung. Foto: zVg/Norbert Martins

Jedes der mehr als 900 Gemälde, die er fotografiert hat, hat Martins auf einem Aktenblatt verewigt, alle Informationen zu Künstlern, Entstehungsjahr, Inhalt und Bedeutung festgehalten. Das Bild „Pankower Marktleben“ befindet sich in seinem ersten Ostberlin-Ordner, es trägt die Nummer „1“. Gemalt wurde es von Prof. Dieter Gantz im Jahr 1988 – und noch heute ist es an der Fassade an der Ecke Berliner Straße und Breite Straße zu sehen. Es ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, wie subtil manchmal Dinge versteckt wurden. Denn: Natürlich sind in der Auslage des Händlers Bananen versteckt, eine Anspielung auf die Mangelwirtschaft.

Überhaupt seien sehr viele der Gemälde doppelsinnig – „aber die meisten Menschen fahren oder laufen daran vorbei, ohne die Bedeutung zu sehen.“ Mehrere Beispiele sind in seinem Bildband „Street Art Gallery“ (erhältlich unter www.norbert-martins-wandbilder-berlin.de) zu sehen, der gerade erschienen ist. Ein Riesen-Bild zeigt etwa einen abgenagten Apfel, zu sehen ist das Werk „Süße Sünde“ am Gebäude Prinzenstraße 19 in Kreuzberg. Erst auf den zweiten Blick wird klar: Der Apfel ist in Wirklichkeit unser Planet, die abgekauten Stellen stehen für die fehlenden Ozeane zwischen den Kontinenten. Die Aussage: Die Menschheit zerstört den Planeten.

Das Bild „Süße Sünde“ zeigt einen Apfel - aber nur auf den ersten Blick. Das abgekaute Stück Obst, bemalt von den Schweizern Wes21 und Onur, symbolisiert die Zerstörung unseres Planeten.
Das Bild „Süße Sünde“ zeigt einen Apfel - aber nur auf den ersten Blick. Das abgekaute Stück Obst, bemalt von den Schweizern Wes21 und Onur, symbolisiert die Zerstörung unseres Planeten. Foto: zVg/Norbert Martins

Auf einer Seite des Buches ist ein etwas ungewöhnliches Bild zu sehen – ein Messer, das eine Fleisch-Scheibe von einem größeren Brocken abschneidet. „Als ich das zum erste Mal sah, fand ich es ganz schrecklich“, sagt er und lächelt. Erst später sei ihm aufgefallen: In der Maserung des Fleisches sind die Bezirksgrenzen Berlins versteckt, auf dem Messer prangt der Schriftzug „1961 - 1989“. Das Messer symbolisiert auch die Mauer, die die Stadt in zwei Hälften schnitt.

Á propos: Berlin war auch in der Wandbild-Szene geteilt – in der Zeit nach der Wende ließ sich vielerorts noch ein Unterschied zwischen Ost- und West-Gemälden erkennen, erklärt Martins. „Das lag daran, dass es im Ostteil Berlins von den Herstellern nur wenig Farben zur Verfügung gestellt wurden – fünf pro Jahr. Das waren nie Grundfarben, sondern Mischfarben. Deshalb konnte man bei vielen Bildern relativ genau sagen, in welchem Jahr es gemalt wurde, die Farben verrieten es.“

Die „Gebrochene Fassade“ von Künstler Gert Neuhaus in der Obentrautstraße ist das Lieblingsbild von Sammler Norbert Martins.
Die „Gebrochene Fassade“ von Künstler Gert Neuhaus in der Obentrautstraße ist das Lieblingsbild von Sammler Norbert Martins. Foto: zVg/Norbert Martins

Heute ist es nicht mehr so leicht – und viele Gemälde von damals sind bereits verschwunden, sie wurden übermalt, durch neue ersetzt. Schade findet Martins das nicht, im Gegenteil. „Unter Denkmalschutz könnte man die Bilder nicht stellen. Sonst könnte ja keine Wohnungsbaugesellschaft umbauen oder Wärmedämmungen aufbringen“, sagt er. Für ihn ist es gut: Auch dadurch bekommt Martins immer neue Bilder vor die Linse. Fraglich bleibt allerdings, was aus seiner Sammlung wird. 

Das Bild „Tropfen und Ringe“ ist an einer Fassade gegenüber des Tierpark-Eingangs zu sehen. Gemalt wurde es von der Gruppe „1010“ aus Polen.
Das Bild „Tropfen und Ringe“ ist an einer Fassade gegenüber des Tierpark-Eingangs zu sehen. Gemalt wurde es von der Gruppe „1010“ aus Polen. Foto: zVg/Norbert Martins

„Ich werde die Sammlung so lange erweitern, wie ich es kann. Aber das ganze ist mein Lebenswerk, es muss irgendwo hin.“ Viel Zeit hat er investiert, um die Gemälde zu dokumentieren. Oft sei er mehrfach angereist, um unterschiedliche Aufnahmen bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen und zu verschiedenen Jahreszeiten zu fotografieren. „Und immer wieder habe ich versucht, Zugang zu gegenüber stehenden Gebäuden zu bekommen, um die Wandbilder klarer fotografieren zu können.“

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Hinzu kommt die ausführliche Dokumentation, abgeheftet in mehreren Aktenordnern. Vielleicht findet sich ein Museum, das die Bilder, die Martins in einem Zeitraum von mehr als 40 Jahren sammelte, erhalten will – „vielleicht übernimmt es irgendwann meine Tochter Melanie“, sagt Martins. „Aber ob sie es dann weiterführen wird, steht auf einem anderen Blatt.“