Am 2. Juli demonstrierten Studenten gegen den Vortrag vor der Humboldt-Universität.
Am 2. Juli demonstrierten Studenten gegen den Vortrag vor der Humboldt-Universität. dpa/Gateau

Kann die Biologin Marie-Luise Vollbrecht ihren Vortrag „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ an der Humboldt-Uni ohne Zwischenfälle halten? Bei der Langen Nacht der Wissenschaft Anfang Juli wurde der Vortrag kurzfristig abgesagt. Aus Angst vor Protesten, die aus dem Ruder laufen. Die Gender-Debatte wird immer hitziger. Denn der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen an der Humboldt-Uni Berlin“ hatte zu einer Demonstration vor der Universität aufgerufen. Die Aktivisten werfen Vollbrecht Transfeindlichkeit vor. Vollbrecht sagte damals: „Das Einknicken vor radikalen gewaltbereiten Aktivisten, die kein Verständnis von Biologie haben, ist verständlich, aber alarmierend.“ 

An diesem Donnerstag (17 Uhr) soll der Vortrag nachgeholt werden. Anschließend plant die Uni eine Diskussion unter anderem mit Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (19 Uhr). In der Kontroverse geht es um Geschlecht und Identität, um Wissenschaft und Freiheit, um Vorwürfe der Ideologie und Ignoranz. Beteiligte auf allen Seiten fühlen sich verletzt oder eingeschüchtert. Aber der Streit geht weit über die persönliche Ebene hinaus – und ist ziemlich unübersichtlich. Was ist wissenschaftlich? Herrscht hier Cancel Culture? Über was wird gestritten?

Lesen Sie auch: Andauernde Autobahn-Blockaden: Berlins Justizsenatorin will nicht eingreifen>>

Warum geht es in dem Vortrag?

Der Vortrag „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“ der Biologin Marie-Luise Vollbrecht war für die Lange Nacht der Wissenschaften an der Humboldt-Universität geplant. Nach einem Protestaufruf des „Arbeitskreises kritischer Jurist*innen“ sagte die Uni die Präsentation aus Sicherheitsgründen ab. Vollbrecht hielt sie stattdessen auf YouTube. In der Zeit beschrieb sie ihre zentrale These: „Das biologische Geschlecht des Menschen ist binär, es gibt männliche und es gibt weibliche Menschen. Wir werden männlich oder weiblich geboren und behalten unsere geschlechtliche Zugehörigkeit bis zum Ende des Lebens.“

Wer ist die Referentin?

Die 32-jährige Doktorandin wurde Anfang Juni als Co-Autorin eines Beitrags in der Zeitung Welt unter dem Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ bekannt. Die Autoren schreiben, die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ziele „darauf ab, den Forderungen von Trans-Lobbygruppen Gehör zu verschaffen, denen zufolge man das biologische Geschlecht wechseln könne“. Das sei eine „bedrohliche Entwicklung“: „Es kann nicht angehen, dass eine kleine Anzahl von Aktivisten mit ihrer ‚woken‘ Trans-Ideologie den ÖRR unterwandert“, heißt es im Text.

Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht arbeitet an der Berliner Humboldt-Universität.
Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht arbeitet an der Berliner Humboldt-Universität. Humboldt-Universität

Warum geht es bei den Protesten?

Der Welt-Beitrag löste heftige Reaktionen aus, die nun bei der Debatte über Vollbrechts Vortrag eine Rolle spielen. Ausführlich legt dies eine Stellungnahme der HU-Studierendenvertretung dar, des sogenannten Referent*innenRats. Dieser beklagt die Diskriminierung von „trans*, inter* und nicht-binären Personen (kurz TIN*)“ und nennt Vollbrecht eine „offen TIN*-feindliche Person“.

Vollbrecht solidarisiere sich mit „einer Bewegung, welche die Existenz von TIN*-Personen leugnet“. Sie stehe den „Trans-Exclusionary Feminists (TERFS)“ nahe, die sich unter anderem gegen den Zugang von Transpersonen zu Räumen für Frauen wenden. Vollbrecht sagte dazu T-Online: „Wenn ich als Frau sage, dass ich nicht in der Situation sein will, dass mir in der Sammelumkleide oder unter der Dusche ein Individuum mit Penis begegnet, dann ist das mein gutes Recht.“

Warum steht die Humboldt-Uni in der Kritik?

Nach der Absage des Vortrags wurde vor allem die Humboldt-Universität scharf angegriffen. Diese habe der Wissenschaftsfreiheit einen Bärendienst erwiesen, sagte der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, Anfang Juli. „Wissenschaft lebt von Freiheit und Debatte“, sagte Wissenschaftsministerin Stark-Watzinger (FDP) der Bild. „Das müssen alle aushalten.“ Ein Kommentar der Welt sprach von einem „krassen Fall von Cancel Culture“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: „Es ist die Haus- und Hofideologie der Universitäten, die in Berlin nach außen getreten ist: Geschlecht ist nicht mehr als ein soziales Konstrukt.“

Cancel Culture: meinungsfrei oder mundtot?

Vollbrecht selbst äußerte Verständnis für Sicherheitsbedenken der Uni, schrieb aber in der Zeit auch: „Biologen, die versuchen, über Zweigeschlechtlichkeit aufzuklären, (werden) inzwischen offen und regelmäßig angefeindet. Die Frage nach Geschlecht und die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist längst zu einem Kriegsschauplatz des Kulturkampfs geworden.“ Die Biologin beruft sich auf rein wissenschaftliche Erkenntnisse.

Lesen Sie auch: Experten fordern Krisen-Zuschlag: 100 Euro pro Monat mehr für Bedürftige>>

Das tun aber auch ihre Kritiker. So schreibt der Referent*innenRat: „Die Wissenschaftsfreiheit ist kein Mantel für die Verbreitung von menschenverachtenden Ideologien und gegen Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichteter Propaganda – die Erde ist keine Scheibe, die Evolution ist kein Verschwörungsmythos und die Unterschiedlichkeit von Menschen hat mehr als zwei Seiten.“