Zirkusdirektor Gerhard Richter macht aus dem kleinen Sascha (4) einen Teller-Jongleur.
Zirkusdirektor Gerhard Richter macht aus dem kleinen Sascha (4) einen Teller-Jongleur. Lehrke

Es ist ein Hauch von Frühlingsfest. Und hat doch so gar nichts damit zu tun, auch wenn es Kaffee gibt, Frauen sich unterhalten, Kinder in der Sonne spielen und Zirkusdirektor Gerhard Richter ihnen kleine Tricks beibringt. Denn die Szene  ist der Hof des Sozialamts Neukölln, wo sich Flüchtlinge aus der Ukraine anstellen müssen, um erste finanzielle Hilfe zu bekommen.

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Es sind die Glücklichen, fast ausschließlich Frauen mit Kindern, die vormittags auf Abfertigung warten, weil sie sich schon mitten in der Nacht vor dem Haus angestellt hatten und eine der 90 Wartenummern ergattern konnten. Die übrigen müssen wieder gehen, auf den nächsten Tag hoffen. Das Bezirksamt weiß, dass sie verärgert sind, aber die Vorgehensweise sei besser als alle vorzulassen und dann erst am Nachmittag wegzuschicken.

Sozialamt improvisiert

Hier wie in den anderen Berliner Sozialämtern stößt hoher Andrang von Ukrainern auf eine Verwaltung, die darauf nicht vorbereitet war und jetzt improvisiert. Das fängt damit an, dass vor dem Haus eine Art Wartespur aufs Pflaster gemalt ist, mit der Abkürzung UKR. Und hört nicht damit auf, dass „Kasse“ auf Ukrainisch samt einem Pfeil auf den Gehweg gesprüht sind: Wer das Hilfsgeld bewilligt bekommen hat, erhält eine Auszahlungskarte für den Kassenautomaten im nahen Rathaus.

Zwei Zelte sind aufgestellt, eines – als Aufenthaltsraum – soll noch eine Heizung bekommen. Im anderen geben Lika und Daniela Kaffee, Tee, Wasser und Traubenzucker aus, Freiwillige vom Neuköllner EngagementZentrum NEZ. „Ich komme um 8 Uhr morgens“, sagt Lika, „um 8.30 Uhr werden die Menschen eingelassen, die eine Wartenummer bekommen haben, und sind durchgefroren.“ Da seien heiße Getränke sehr willkommen.

Daniela vom Neuköllner EngagementZentrum reicht Alisa aus Odesa einen Kaffee.
Daniela vom Neuköllner EngagementZentrum reicht Alisa aus Odesa einen Kaffee. Lehrke

Von 9 bis etwa 17 Uhr können 90 Fälle – Einzelpersonen oder Familien – abgearbeitet werden, zehn mehr als noch vor wenigen Tagen. Das waren bis zu 210 Menschen. Sie müssen einen ukrainischen Ausweis oder Pass vorlegen, ohne Bild geht da nichts, auch nicht bei Kleinkindern. Für sie müssen die Eltern sich ein Papier von der ukrainischen Botschaft beschaffen.

Ein Security-Mann beherrscht Deutsch, Ukrainisch und noch drei Sprachen

Jeder Antragsteller bekommt ein Klemmbrett, auf dem er seine Daten eintragen kann, und dann heißt es warten. Hilfe gibt es schon vor dem Betreten der Büros von einigen der Wachleute. Einer beherrscht Ukrainisch, Rumänisch, Bulgarisch, Russisch und Deutsch. Er bekommt auch die Stimmungslage der Flüchtlinge mit: „Etwa die Hälfte ist sehr dankbar, die andere macht Deutschland für den Krieg in der Ukraine mitverantwortlich. Deshalb sei es verpflichtet zu helfen.“

Wartende Menschen auf dem Hof des Sozialamts Neukölln. Bis zu 210 Menschen aus der Ukraine wurden bislang hier durchgeschleust und mit Geld ausgestattet.
Wartende Menschen auf dem Hof des Sozialamts Neukölln. Bis zu 210 Menschen aus der Ukraine wurden bislang hier durchgeschleust und mit Geld ausgestattet. Lehrke

Den Kindern jedenfalls kann schnell langweilig werden. Da hilft der Zirkus Mondeo, der schon 2015 bei der Betreuung von syrischen Flüchtlingskindern dem Bezirk Neukölln zur Seite stand. Direktor Gerhard Richter, der im Gegensatz zu damals bislang keine traumatisierten Kinder entdeckt hat, lässt Plastik-Teller auf Holzstäben kreisen, reicht die dann weiter. Sascha, ein Vierjähriger aus Odesa, hat am Ende drei Stäbe mit rotierenden Tellern in der Hand, ruft begeistert nach seiner Mutter Katerina, um ihr seine Künste vorzuführen.

Katerina ist mit drei Söhnen aus Odesa nach Berlin gekommen

Sie wartet schon seit Stunden, um flüssig zu werden, um das Nötigste für sich und ihre drei Söhne Sascha, Ivan (16) und Nikolai (12) einkaufen zu können. Seit zwei Tagen sind sie in Berlin, der Mann und Vater musste in der Ukraine bleiben. Sie wollen auch in Berlin bleiben, weil sie hier Menschen kennen, und sie hatten unglaubliches Glück: Eine Wohnung ist schon gefunden.

Das sei Glück, meint Alisa (26) aus Odesa, die sich selbst Seelentherapeutin nennt. Sie berichtet, im Türkei-Urlaub vom Krieg überrascht worden zu sein. Seit dem 6. März in Berlin, habe sie am Hauptbahnhof geholfen, Landsleute zu betreuen, die dort ankamen. „Viele sind sehr misstrauisch gegenüber allen, der Überfall Russlands, unserer einstigen Brüder, ist für sie wie eine Vergewaltigung“, sagt sie. Wenn der Krieg überhaupt etwas Gutes habe, dann die Stärkung einer einheitlichen ukrainischen Nation.

90 Anträge am Tag kann das Amt bewältigen

Dieser Gedanke dürfte die Wartenden wenig bewegen, denn die Bearbeitung geht nicht so schnell, wie man sich das erhoffen könnte. Jeder Antrag auf finanzielle Unterstützung muss in das System Open/Prosoz eingetippt werden, und das kann nicht jeder Mitarbeiter bedienen.

Das System dient unter anderem dazu, Missbrauch zu vermeiden, damit niemand am Montag in Neukölln, am Dienstag in Pankow und am Mittwoch in Spandau Geld abholen kann. Das kann sich summieren: Für Alleinstehende und Haushaltsvorstände gibt es 367  Euro im Monat, für deren Partner 330, und für Kinder je nach Alter 249 bis 326 Euro, weist das Bundessozialministerium aus. Allein in Neukölln wurden zuletzt 120.000 Euro am Tag ausgezahlt.

Da geht's zur Kasse, ist in kyrillischen Buchstaben aufs Pflaster gesprüht.
Da geht's zur Kasse, ist in kyrillischen Buchstaben aufs Pflaster gesprüht. Lehrke

Das Sozialamt Neukölln war auch personell kalt erwischt worden. Von vier Mitarbeitern in der Stelle, die Asylbewerber betreuen und die jetzt auch für die Flüchtlinge zuständig ist, war nur einer verfügbar, sagt Sozialstadtrat Falko Liecke (CDU). Ein Kollege ist dauerkrank, eine Kollegin in Mutterschutz, ein Mitarbeiter in den Pandemiestab abgeordnet.

Durch Umschichtung innerhalb es Sozialamts sind jetzt an die zehn Mitarbeiter mit den Ukrainern befasst, was an anderen Orten Lücken reißt, denn die Hilfe für Obdachlose, Behinderte oder Menschen mit Anspruch auf Grundsicherung muss  weitergehen.

Warten auf den Aufruf: Wenigstens war es zuletzt tagsüber recht warm und vor allem trocken.
Warten auf den Aufruf: Wenigstens war es zuletzt tagsüber recht warm und vor allem trocken. Lehrke

Jetzt werden Trainees für den gehobenen Dienst des Bezirksamts eingesetzt, dazu junge Mitarbeiter, die gerade die Ausbildung abgeschlossen haben, und Menschen, die Initiativbewerbungen ans Bezirksamt geschickt hatten: Sie werden zwei Tage lang an der Verwaltungsakademie geschult, um mit Open/Prosoz  arbeiten zu können. Lieckes Abteilung hofft, in zwei, drei Wochen zehn weitere Mitarbeiter einsetzen und einen Zwei-Schicht-Betrieb aufnehmen zu können. Denn jetzt, so sagen Liecke und die anderen elf Berliner Sozialstadträte, arbeiteten ihre Leute über die Maßen lange.

Zu wenige Flüchtlinge lassen sich registrieren

Eine andere Hoffnung ist, dass sich mehr Ukrainer im Ankunftszentrum Tegel als Flüchtlinge registrieren lassen. „Bisher war hier nach unserer Kenntnis niemand, der registriert war“, heißt es aus Lieckes Stab. Wären die Menschen registriert, könnten sie auf andere Bundesländer verteilt werden, die Berliner Sozialämter würden entlastet.

Die versuchen unterdessen dem Vernehmen nach, eine Überforderung auf andere Art zu vermeiden: Sie zahlen das Geld nicht nur für einen, sondern für zwei oder sogar drei Monate aus, damit die Menschen nicht immer wieder kommen müssen. Offiziell bestätigen mag das nicht nur Neukölln nicht.

Die Leistungen an die Flüchtlinge erfolgen übrigens auf Grundlage des Asylbewerber-Leistungsgesetz, obwohl die Flüchtlinge keine Asylbewerber sind. Das geht darauf zurück, erklärt ein Mitarbeiter Lieckes, dass die „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU greift und ein Aufenthaltsrecht ohne Asyl ermöglicht.