Ich traf Michail Gorbatschow – heute schäme ich mich nicht, dass ich um ihn weine
Unser Autor wird das Treffen mit dem früheren sowjetischen Staatsmann in Hellersdorf nicht vergessen - auch weil er ihm viel zu verdanken hat.

Gorbatschow ist tot. Es war ein Zufall, dass ich noch kurz vor Mitternacht im Internet surfte und diese drei Worte und die Mitteilung las, dass Michail Gorbatschow im Alter von 91 Jahren an den Folgen einer langen schweren Krankheit in einem Moskauer Krankenhaus gestorben war. Und ich schäme mich nicht, dass ich geweint habe.
Denn die Nachricht traf mich mitten ins Herz. Nicht nur, weil ich, wie viele Menschen in diesem Land, ihm zu verdanken habe, dass 1989 die Berliner Mauer fiel und durch seine Hilfe im Folgejahr die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht wurde. Es war da noch etwas sehr Persönliches. Als KURIER-Reporter durfte ich diesen einzigartigen Mann, der den Friedensnobelpreis bekam, Jahre später in Berlin treffen und war überrascht, wie menschlich der frühere Staatschef einer Supermacht war.

Den Tag, als ich Gorbi traf, werde ich nie vergessen. Es war der 2. März 1998, als Gorbatschow mit seiner Frau Raissa auf Einladung einer Wohnungsbaugesellschaft und des Bezirkes Marzahn-Hellersdorf das Kienberg-Viertel besuchte. Ich war damals 31 und spazierte als Reporter an der Seite von Gorbatschow durch den Kiez, der an diesem Tag seinen 67. Geburtstag feierte. Natürlich wusste ich das, kramte mein Schulrussisch zusammen und sagte zu ihm: „Ja pozdrawlaju tebja s dnom roschdenija! Ich gratuliere dir zum Geburtstag!“

Mein Gott, war das peinlich! In meiner Aufregung hatte ich beim Gratulieren den Ex-Staatschef der Sowjetunion auch noch wie einen guten, alten Bekannten geduzt – was sich ja nicht gehört. Doch Gorbatschow nahm mir diese Vertrautheit gar nicht übel. Im Gegenteil: Wir unterhielten uns, dank einer Dolmetscherin, sogar wie gute Freunde.
Lesen Sie auch: Michail Gorbatschow – Held oder „Totengräber der Sowjetunion“?>>
Der Spaziergang mit Gorbatschow: Wir unterhielten uns wie gute Freunde
Das Geburtstagskind zeigte mir stolz seine Krawatte, die ihm seine Frau Raissa geschenkt hatte. „Sie passt gut zu dem Schal, den ich trage“, sagte Gorbatschow. Er erzählte mir von Moskau, wie er dort mit seiner Frau in einer Neubauwohnung mit drei Zimmern lebt.
Nun wollten die Gorbatschows sehen, wie in Hellersdorf damals die Hochhäuser moderne Heizungssysteme und Solaranlagen bekamen. Gorbi staunte, als er die farbige Außenfassaden und die neu begrünten Innenhöfe der Plattenbauten sah. „In Moskau reißen wir gerade die über 30 Jahre alten Neubau-Viertel ab, statt sie zu erhalten“, erzählte er mir.

Überrascht war ich, wie locker Gorbatschow, gekleidet mit Mantel und Mütze, bei dem doch recht offiziellen Rundgang durch das Kienberg-Viertel auftrat. Auch wenn zwei Bodyguards in seiner Nähe waren, zeigte er nie die Allüren eines ehemaligen Staatschefs. Tauchten am Straßenrand Passanten auf, die mit ihm paar Worte wechseln wollten, ging Gorbatschow auf sie zu, ließ sich nicht von den Personenschützern abschirmen.

Während ich diese Zeilen schreibe, laufen weltweit die Berichte, die über Gorbatschows Leben erzählen. Über den Bauernsohn, dessen Vater ein Russe und dessen Mutter eine Ukrainerin war, der sich als Agrar-Experte bis in die Spitze der sowjetischen Führung vorkämpfte und 1985 an der Macht der Supermacht stand.
Lesen Sie auch: Mauerfall und Wiedervereinigung: Als alles möglich war>>
Wie er damals auf US-Präsident Ronald Reagan zuging und es möglich machte, dass die Sowjetunion mit den USA wegweisende Verträge zur atomaren Abrüstung und Rüstungskontrolle abschließen konnten. Wie er sich 1990 mit Bundeskanzler Helmut Kohl im Kaukasus traf, und sich beide in Strickjacke und Pullover an einen Fluss setzten, um den Grundstein für die deutsche Wiedervereinigung zu legen.

Es gab aber auch die andere Seite eines großen Staatsmannes. Verehrt in der Welt, im eigenen Land gehasst. Während Gorbatschow Europa die Freiheit schenkte, versuchte er im Baltikum oder in Georgien mit Panzern die Abtrennung dieser einstigen Sowjet-Republiken zu unterdrücken.
Gorbatschow: Ohne ihn wäre die friedliche Revolution in der DDR nicht friedlich gewesen
Trotz der Schattenseiten erinnere ich mich an einen Mann, der vor allem für viele Deutsche noch immer ein guter Freund geblieben ist. Vor allem für die, die wie ich in der DDR aufgewachsen sind. Sein politisches Streben nach „Perestroika“ (Umgestaltung) und „Glasnost“ (Offenheit) machten uns Mut und gaben uns die Hoffnung, dass sich auch die starren Verhältnisse des SED-Staates lockern würden, an denen Erich Honecker bis zum Schluss festhielt.

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“: Gorbatschows legendärer und warnender Satz stieß bei der SED Führung sogar am 40. DDR-Geburtstag auf taube Ohren, als der sowjetische Staatsmann am 7. Oktober 1989 vor dem Palast der Republik vom Volk mit „Gorbi“-Rufen stürmisch gefeiert wurde.
Ohne ihn wäre die friedliche Revolution in der DDR nicht so friedlich verlaufen. Dazu gehört auch, dass Gorbatschow am 9. November 1989 als sowjetischer Machthaber die Öffnung der DDR-Grenzen zum Westen zuließ und keine Panzer anrücken ließ.

Wer weiß, was dann passiert wäre. Mit Sicherheit hätte ich dann meine Frau, die in West-Berlin aufwuchs, nie kennengelernt. Und ich hätte mich garantiert nicht vor 24 Jahren mit Gorbatschow in Hellersdorf getroffen.
Als wir uns damals im Kienberg-Viertel verabschiedeten, schrieb mir Gorbatschow noch ein Autogramm in meinen Reporterblock. Das Blatt und das Foto, das diesen Moment zeigt, liegen nun auf meinem Schreibtisch. Sie erinnern an einem Mann, der für mich und für viele andere Menschen einfach nur „Gorbi“ war.