Umfrage in Neukölln
„Ich möchte rausgehen können, wann ich möchte!“
Der 330.000 Einwohner zählende Bezirk ist bundesweit Corona-Hotspot Nummer eins. Wie gehen die Neuköllner damit um, wie beeinflusst es ihren Alltag?

Gerd Engelsmann
Auf dem Wochenmarkt am Maybachufer unterhält am Freitagmorgen ein Verkäufer von Keramik- und Holzgeschirr die Kundschaft. „Drei Schälchen zum Preis von zwei – Schnäppchen nennt man das auf Deutsch, junge Dame“ sagt er zu einer Kundin. Nur zwei Stände weiter verkauft eine Frau Schals, Tücher und Taschen. „Geschäftlich herrscht bei mir durch Corona seit einiger Zeit tote Hose.“ Mehr möchte sie nicht sagen, auch ihren Namen nicht.
Über eine zu geringe Auslastung kann sich Ärztin Sibylle Katzenstein nur einige Meter weiter in der Bürknerstraße nicht beschweren. Sie testet bereits seit Wochen nicht nur Menschen mit akuten Krankheitssymptomen, sondern auch Urlauber, die von ihren Reisen wiederkommen oder in die Ferien aufbrechen wollen. Die Praxis ist im Risikogebiet Neukölln die Anlaufstelle, bei der das ohne Termin geht. „Man kann sein Kranksein ja nicht planen und wenn wir die Infektionsketten unterbrechen wollen, muss derjenige, der sich krank fühlt, sofort getestet werden“, sagt Katzenstein. Vor der Praxis stellen sich zur Mittagszeit zahlreiche Menschen vor zwei Fenstern an. Durch beide Öffnungen wird ein Abstrich der Patienten genommen, im besten Fall liegt das Ergebnis nach 24 Stunden vor.
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Ein älterer Anwohner gegenüber der Praxis erzählt von seinem Wohnungsfenster aus, dass die Schlangen teilweise so lang seien, dass sich die umliegenden Geschäfte schon beschwert hätten, weil dadurch der Zugang für Kunden versperrt sei. Er selbst habe sich noch nicht testen lassen, hat aber grundsätzlich Angst vor einer Ansteckung. „Ich frage mich, wo ich mich hier im Risikogebiet noch frei bewegen kann“, sagt er. Für die aktuell hohen Infektionszahlen macht er die jungen Leute verantwortlich, die keine Masken trügen und sich nicht an die Regeln hielten.

Vor dem Rathaus Neukölln steht H. Maas und wartet auf ihre Verabredung. Auch sie ist mit dem Verhalten der Jugend in der jüngeren Vergangenheit nicht einverstanden, sieht sie jetzt in der Pflicht. „Die Feierlichkeiten an der Hasenheide waren nicht normal“, sagt sie. Dass die Jugend so verantwortungslos sein kann, obwohl sie sich in vielen anderen Dingen wie Umweltschutz gut organisiert, könne sie nicht verstehen. „Wenn das Feiern in den nächsten drei bis vier Monaten eingeschränkt wird, haben wir eine gute Chance, dass wir einigermaßen unbeschadet aus der Situation herauskommen“, sagt Maas. „Ich stelle mir aber öfter die Frage, was passiert, wenn uns die Krankenhäuser nicht mehr versorgen können.“
Die von RKI-Chef Robert Wieler ins Gespräch gebrachte Abriegelung von einzelnen Gebieten mit hohen Corona-Zahlen teilt Maas nicht: „Da würde ich mich sehr eingeschränkt fühlen. Ich möchte rausgehen können, wann ich möchte. Das ist für mich das Wichtigste.“
„Polizei und Behörden sind hier unterbesetzt“
Eine junge Frau, die am Rathaus Neukölln entlangläuft und bei einem Gesundheitsamt in Berlin arbeitet, ihren Namen aber nicht nennen möchte, hält den Vorschlag ebenfalls für wenig zielführend. „Ich stelle mir das mit dem Abriegeln sehr schwierig vor, weil in Neukölln ein ständiger Wechsel von Menschen stattfindet, die hier zum Arbeiten, Wohnen oder Feiern herkommen“, sagt sie. Ihrer Meinung nach können die Kontrollen nicht genügend gewährleistet werden, denn „Polizei und Behörden sind hier unterbesetzt“.
„Wenn es sein muss, dann müssen wir das eben so machen“, sagt ein Verkäufer auf dem täglichen Markt am Herrmannplatz auf die Frage, was er von einer Ausgangssperre für Corona-Hotspots halte. Der Mann, der früher Spielzeug in seinem Stand verkauft hat, nun aber Masken und Desinfektionsmittel anbietet und auch nicht mit Namen genannt werden möchte, spricht die Probleme in Neukölln offen aus. „Die Leute haben keinen Respekt, halten kaum Abstand, befolgen die Regeln nicht. Meistens sind es die Jüngeren. Die glauben nicht, dass es Corona gibt. Aber wir müssen auch daran denken, die älteren Menschen zu schützen“, sagt er.
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Seine ältere Stammkundschaft vermisst auch der Besitzer eines Crêpes- und Saftstandes am Herrmannplatz. „Viele kommen nicht mehr, weil sie Angst haben, sich anzustecken. Wir leben nur noch von Laufkundschaft“, sagt er. Er spricht sich dafür aus, Kontakte zu begrenzen und auch auf der Straße öfter eine Maske zu tragen. „Sonst schaffen wir es nicht, die Krankheit wegzubekommen.“ Nur mit dem Vorschlag von RKI-Chef Wieler kann er nichts anfangen. „Ich wäre nicht damit einverstanden, Neukölln abzuriegeln. Viele pendeln durch diesen Bezirk und wir alle in Berlin sind betroffen.“